Sehnsucht nach Owitambe
etwas Wasser ein, doch Ricky schaffte es kaum zu schlucken.
»Was geschieht nur mit unserer Tochter?«, fragte Fritz hilflos. Mit tränengefüllten Augen hielt er ein Tablett mit einer Kanne Tee in seiner Hand. Sie zitterte. Natürlich wusste auch er, was ein Kobrabiss für Folgen hatte. Er hatte schon Pferde daran verenden sehen, aber es war etwas völlig anderes, seine einzige Tochter so leiden zu sehen. Ricky zitterte jetzt am ganzen Leib. Sie versuchte sich aufzurichten und rang verzweifelt nach Luft. Jella drückte sie zurück auf das Kissen und versuchte sie mit sanften Worten zu beruhigen. Ihre Tocher krallte sich in das Laken und würgte. Jella half ihr, sich zur Seite zu drehen, als sich auch schon ihr Magen entleerte. Wieder rang Ricky nach Luft. Ihr Atem war kurz und hechelnd, dann erstarb er ganz. Wie eine Puppe lag sie leblos da. Nur das panische Augenrollen unter ihren gelähmten Augenlidern verriet, dass sie noch am Leben war. Jella reagierte sofort. Mit dem Finger säuberte sie Rickys Mund von den Resten des Erbrochenen. Rasch schloss sie ihn und überdehnte leicht ihren Hals. Jella atmete ein und umschloss mit ihrem Mund dicht Rickys Nase, während sie ihre Atemluft wohldosiert hineinströmen ließ. Dann richtete sie sich auf und beobachtete den Oberkörper ihrer Tochter. Zu ihrer Erleichterung hob er sich ein klein wenig an. Sie wiederholte die Beatmung wieder und wieder, bis Fritz sie antippte, um sie abzulösen. Abwechselnd verbrachten sie die nächsten Stunden mit dem Beatmen ihrer gelähmten Tochter. Sie sprachen kein Wort, sondern blickten jedes Mal ängstlich auf die leichten Bewegungen des zarten Oberkörpers, in der Angst, dass die von ihnen gespendete Luft nicht zum Überleben ausreichen könnte.
Als der Morgen sein erstes Licht durch die Fenster schickte, atmete Ricky immer noch nicht selbstständig. Jella wusste, dass ihre Chancen immer geringer wurden. Der Sauerstoff,
den Fritz und sie ihr spenden konnten, würde auf Dauer nicht ausreichen, selbst wenn sie es noch den ganzen nächsten Tag durchhalten konnten. Dann geschah das, was sie schon längst befürchtet hatte. Rickys Oberkörper hob und senkte sich trotz Fritz’ Beatmung nicht mehr. Jella fühlte, wie etwas in ihr zerriss. Kraftlos sank sie auf dem Boden zusammen und schloss die Realität aus ihrem Denken aus.
Nakeshi erwachte von heftigen Schmerzen in ihrer Brust. Wie ein Dolchstich hatte sie der Schmerz durchbohrt. Sie richtete sich auf und fühlte eine Welle von Leid, die wie Schlammmassen nach einem Regenguss durch ihr Inneres spülte.
»Sternenschwester«, rief sie erschrocken. Bô drehte sich schlaftrunken zu ihr um.
»Was ist geschehen?«, murmelte er. »Hast du schlecht geträumt?«
Nakeshi beruhigte ihren Mann und schlüpfte aus ihrer aus Zweigen und Ästen bestehenden Hütte. Die Nacht war nicht besonders kalt. Zerfetzte dunkle Wolkenberge trieben über einen mondbeschienenen Himmel und kündeten von baldigen Regenschauern. Wo sie den Himmel nicht vollständig verdeckten, blinkten hin und wieder einzelne Sterne auf. Nachdenklich betrachtete die Buschmannfrau das bizarre Schauspiel und ließ ihren Gedanken freien Lauf. Der Schmerz, den sie empfunden hatte, war stärker als alles, was sie jemals von Jella empfangen hatte. Etwas Schlimmes war geschehen! Ihre Sternenschwester brauchte Hilfe. Nakeshi begann sich in Trance zu singen. Erst langsam, dann immer schneller stampfte sie rhythmisch auf den sandigen Boden und bat Kauha, sie auf seinen Pfaden zu ihrer Sternenschwester zu führen.
Blind vor Schmerz starrte Jella ins Leere.
Ich habe versagt. Ricky ist tot.
Wie ein sich unendlich wiederholendes Mantra strömten diese beiden Sätze durch ihr Gehirn. Ihr Leid entriss sie der Wirklichkeit und schob ihre Wahrnehmung auf eine andere Ebene, die sie von allem isolierte und nur noch in die Vergangenheit blicken ließ. Schon einmal hatte sie den Tod eines geliebten Menschen miterleben müssen. Tatenlos hatte sie mit ansehen müssen, wie ihre Mutter neben ihr gestorben war. Deshalb hatte sie Ärztin werden wollen.
Ich habe versagt. Ricky ist tot.
Sie fühlte sich wie hinter einer dicken Glaswand, die sie von dem Hier und Jetzt trennten. Sie wunderte sich, dass Fritz ihre Tochter weiter beatmete. Wusste er denn nicht, wie sinnlos es war?
Ich habe versagt. Ricky ist tot.
Ricky, das Zimmer, ihr Mann – alles verschwamm vor ihren Augen. Alles wurde unschärfer und verzerrte sich. Jella war froh darum. Ein
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