Sehnsucht nach Owitambe
sie zur Rede stellen.«
»Das würde ich mir an deiner Stelle gut überlegen«, riet Salim Mohan ernst. »Du vergisst, welche Stellung die Frau hier hat. Sie wird diese Gelegenheit nur nutzen, um euch endgültig
aus dem Weg zu räumen.« Mit diesen Worten verabschiedete sich der Arzt und versprach, am Nachmittag noch mal nach den beiden Frauen zu sehen.
Zum Glück erholte sich Ricky überraschend schnell. Nur die Bisswunde an ihrem Bein heilte langsam, sodass sie gezwungen war, länger liegen zu bleiben, als ihr lieb war. Salim sah jeden Tag bei ihr vorbei und wechselte die breiigen Umschläge an ihrem Bein. Die Wunde schloss sich nur allmählich, dennoch war der Arzt zufrieden, denn es bildete sich keine Nekrose, wie man sie oft als Folge von Kobrabissen vorfand. Ungeduldig wartete Ricky ab, bis der Arzt ihr endlich erlaubte, wieder herumzulaufen.
»Aber sei vorsichtig«, ermahnte er sie. »Die Wunde ist noch nicht ganz geschlossen, Du musst auf jeden Fall vermeiden, dass sie sich nochmals entzündet.«
Salims Sorge war jedoch unbegründet. Der Heilungsprozess machte weiterhin gute Fortschritte, und bald war Ricky ganz genesen. Anders verhielt es sich mit Jella, deren Zustand nach wie vor unverändert war. Tagsüber saß sie auf einem Lehnstuhl unter dem Sonnendach auf der Dachterrasse und blickte über den See. Den Dingen des täglichen Lebens wie ankleiden, essen, sich waschen und so weiter kam sie unaufgefordert nach, doch sie tat es wie eine Maschine, ohne innere Anteilnahme. Sie nahm die Menschen um sich herum nicht wahr. Als Ricky ihre Mutter zum ersten Mal so erlebte, war sie fürchterlich erschrocken. Wo war die starke, selbstbewusste Jella, die ebenso streitbar wie liebevoll war? Wie konnte es sein, dass sie nicht einmal ihre eigene Tochter erkannte? Wie ein willenloses Lamm lebte sie unter ihnen, ohne die geringste Lebhaftigkeit zu versprühen. Auch ihr Vater wirkte hilflos. Liebevoll verbrachte er möglichst viel Zeit mit seiner Frau, erzählte ihr alltägliche Kleinigkeiten in der Hoffnung, dass sie endlich aus ihrer selbst gewählten Isolation finden würde, doch es änderte sich nichts.
So verging die Zeit, und Diwali, das große Lichterfest, näherte sich. Ricky mochte Diwali ebenso gern wie das christliche Weihnachten. Vor allem hoffte sie auf eine Gelegenheit, Mukesh endlich wiederzusehen. Seit jenem Abend vor der Tigerjagd hatten sie keine Gelegenheit mehr gehabt, sich zu sehen. Jamina und Bali wirbelten seit Tagen durch das Haus und trafen ihre Vorbereitungen zu dem großen, wichtigen hinduistischen Neujahrsfest. An Diwali wurde im Norden Indiens an Rama gedacht, wie er mit seiner Frau Sita und seinem Bruder Lakshmana nach vierzehnjährigem Exil im Dschungel in seine Hauptstadt Ayodhya zurückkehrte – so beschrieb es eine Episode im indischen Nationalepos Ramayana. Da es bei ihrer Rückkehr dunkel war, zündeten die Menschen am Wegesrand Öllampen für die Gottheiten an. Am fünfzehnten Tag des Hindumonats Kartik, was dem europäischen Kalender nach meist gegen Ende Oktober oder Anfang November war, wurden Öllampen in Reihen an Fenstern und Eingängen aufgestellt, sodass die ganze Stadt von freundlichen Lichtern hell erstrahlte. Auch Bäume und Dächer wurden erleuchtet. Sie sollten den Pitris, den Geistern der Toten, den Weg ins Land der Seligkeit weisen.
Selbst Rickys Eltern mochten das Fest und ließen es sich sogar gefallen, dass während dieser fünftägigen Feierlichkeiten Jamina und Bali das Regiment im Haus übernahmen und für die Einhaltung der Rituale sorgten. Am ersten Tag des Festes, der Dhanwantari Triodasi genannt wurde, wurde das Haus aufgeräumt und mit Blumengirlanden geschmückt. Für gewöhnlich gingen Jamina, Jella und Ricky an diesem Tag in die Stadt und erstanden neue Kleider und kleine Geschenke. Jamina bekam außerdem neues Kochgeschirr und etwas Schmuck.
Wegen Jellas Zustand mussten Ricky und die Dienerin dieses Jahr allein gehen. Jamina schleuste Ricky durch die engen Gassen und Winkel der Stadt und führte sie in unzählige der
kleinen Läden und Buden. Fritz hatte ihnen ausreichend Geld mitgegeben, damit sie alles Notwendige besorgten. Ricky war ihrem Vater dankbar, dass er alles unternahm, um wenigstens ihr ein schönes Fest zu ermöglichen, und sie hatte sich fest vorgenommen, es sich trotz der widrigen Umstände nicht verderben zu lassen. Als Erstes schleppte Jamina sie zu einem Schneider, wo sie einen neuen Sari bekommen sollte. Ricky liebte indische
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