Sein Bruder Kain
mir um Genevieves willen zu sagen, was bei jenem letzten Besuch seines Bruders vorgefallen, war«, fuhr er fort.
»Aber er wollte mir nicht antworten. Ich versicherte ihm, daß ich nichts davon den Behörden preisgeben würde. Ich wollte es einzig und allein für die Familie wissen. Aber er blieb hart.« Seine Stimme war fest, aber man hatte den Eindruck, als sei seine Kehle wie zugeschnürt, als müsse er die Worte mit Gewalt herauspressen, und mehrmals fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen.
Rathbone sah sich noch einmal im Saal um. Enid saß steif auf ihrem Stuhl und lehnte sich eine Spur nach vorn, als versuche sie, ihm auf diese Weise näher zu sein. Genevieve sah vom Zeugenstand zu Enid hinüber und wieder zurück. Selina Herries ballte die Fäuste in ihrem Schoß, ihr Gesicht war von Schmerz erfüllt, aber sie ließ Ravensbrook keine Sekunde aus den Augen.
»Er hat mich um Feder und Papier gebeten«, nahm Ravensbrook seinen Bericht wieder auf. »Er sagte, er wolle seinen Letzten Willen niederschreiben…«
»Meinte er ein Testament oder eine Erklärung? Wissen Sie das?« erkundigte sich der Leichenbeschauer.
»Er hat es nicht gesagt, und ich habe nicht danach gefragt«, antwortete Ravensbrook. »Ich nahm an, daß es sich um eine Erklärung handelte, vielleicht eine Art Letzter Wille. Ich hoffte, es würde ein Geständnis sein oder eine Bekundung von Reue, um seinen Seelenfrieden zu retten.«
Auf den Zuschauerbänken stieß Selina einen leisen Schrei aus, den sie sofort unterdrückte. Eine andere Frau ließ ein ersticktes Schluchzen hören, aber ob es persönlichem Kummer entsprang oder allgemeinem Mitleid, ließ sich nicht feststellen.
Titus Niven legte seine Hand auf die Genevieves, diskret und sehr sanft, und die Anspannung in ihren Schultern ließ ein klein wenig nach.
»Also haben Sie den Wärter gebeten, eine Feder, Tinte und Papier herbeizuschaffen«, half der Leichenbeschauer seinem Zeugen wieder auf die Sprünge.
»Ja«, erwiderte Ravensbrook. Das Mitgefühl im Raum schien ihn nicht zu berühren; vielleicht war der Aufruhr in seinem eigenen Herzen so groß. »Als man sie mir brachte, kehrte ich in die Zelle zurück und gab sie Caleb. Er versuchte die Feder zu benutzen, sagte aber, sie kratze nur übers Papier. Die Spitze müsse neu geschärft werden. Ich holte mein Taschenmesser hervor, um das für ihn zu erledigen…«
»Sie haben ihm das Messer nicht angeboten?« fragte der Leichenbeschauer und beugte sich mit ernster Miene vor.
Ravensbrooks Mund wurde schmal, und seine Stirn legte sich in Falten. »Nein, natürlich nicht!«
»Vielen Dank. Fahren Sie fort.«
Ravensbrook saß nun noch steifer da als zuvor. Seine verzweifelten Bemühungen, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten und die Selbstbeherrschung nicht zu verlieren, kosteten ihn große Anstrengung. Er war ein Mann, der durch einen Alptraum wandelte, und keine Menschenseele im Saal konnte das übersehen.
Diesmal bedrängte der Leichenbeschauer ihn nicht. Ravensbrook holte tief Luft und stieß einen unhörbaren Seufzer aus.
»Ohne die leiseste Warnung, ohne ein Wort zu sagen, stürzte Caleb sich auf mich. Das erste, was ich begriff, war, daß er mir an die Kehle wollte. Seine Finger umklammerten mein Handgelenk, und er versuchte, mir das Messer zu entwinden. Wir kämpften, ich, um mein Leben zu retten, er, um mich niederzuzwingen. Ob er mich töten oder mir das Messer entringen wollte, um sich damit selbst das Leben zu nehmen, weiß ich nicht, und ich möchte auch keine Vermutungen anstellen.«
Ein leises, zustimmendes Raunen ging durch den Raum, ein Seufzer des Mitleids.
»Um Gottes willen, wo bleibt Monk?« flüsterte Goode Rathbone zu. »Wir können diese Sache unmöglich bis morgen hinauszögern!«
Rathbone antwortete nicht. Es gab nichts zu sagen.
»Ich kann Ihnen nicht genau sagen, was passiert ist«, begann Ravensbrook von neuem. »Es ging alles sehr schnell. Es gelang ihm, mich mehrmals zu verletzen, ein halbes Dutzend mal oder so. Der Kampf ging hin und her. Er kam mir wahrscheinlich länger vor, als er in Wirklichkeit war.« Er richtete seinen Blick auf den Leichenbeschauer und sah den Mann ernst an. »Ich habe kaum eine Vorstellung, ob es Sekunden oder Minuten waren. Es gelang mir, ihn wegzudrängen. Er rutschte aus, und ich stürzte durch die Wucht meiner eigenen Bewegungen nach vorn. Ich bin über sein Bein gestolpert, und wir fielen beide zu Boden. Als ich aufstand, lag er auf dem Boden, mit dem Messer in
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