Seit du tot bist: Thriller (German Edition)
über den Arm.
»Und bei dir? Wie war deine Vorlesung?«
Ich sehe ihn mir genau an. Er wirkt immer noch so jungenhaft, obwohl er doch vergangene Woche 40 geworden ist. Liegt das nun an der weichen Rundung seines Kiefers oder an dem Grübchen am Kinn, oder doch eher an seinen großen, erwartungsvollen Augen? Ich streiche ihm übers Kinn. Seine Haut ist rau. Art muss sich zweimal am Tag rasieren, aber seinen Bartschatten habe ich immer gemocht. Er wirkt damit verwegener. Sexy.
»Im Institut ging’s ganz gut.« Mir schnürt es die Kehle zusammen. Ich möchte überhaupt nicht hier sein. »Es tut mir wirklich leid, dass ich zu spät gekommen bin. Es ist nur …dass wir nun wieder hier sind …«
Er drückt meinen Arm. »Ich weiß …« Er legt den Arm um mich und drückt mich an seine Brust. Ich berge mein Gesicht an seinem Hals und presse die Augen zu, gegen die andrängenden Tränen.
»Diesmal wird’s klappen, da bin ich mir sicher. Wir sind einfach an der Reihe, Gen.«
Er sieht auf die Uhr. Die hat er seit Jahren. Sie ist abgewetzt, das Glas zerkratzt. Ein Geschenk von mir – mein erstes Geburtstagsgeschenk für ihn. Da kannten wir uns drei Monate. An dem Abend hat er sich zum ersten Mal von mir zum Essen einladen lassen; darauf habe ich bestanden, weil doch sein Geburtstag war. Ein lauer Frühlingsabend – der erste nach langen Wintermonaten, so war es einem vorgekommen. Nach dem Essen schlenderten wir stundenlang am Embankment entlang, über die Waterloo Bridge hinüber zur South Bank. Art erzählte mir von seinen Plänen für Loxley Benson … Dass er schon sein ganzes Leben nach etwas suche, an das er glauben könne, auf das er seine ganze Kraft richten könne. Ein Ziel.
»Und deine Geschäfte haben für dich diese Bedeutung?«, habe ich gefragt.
Er hat meine Hand genommen und »nein« geantwortet – ich sei, wonach er gesucht habe, und unsere Beziehung sei ihm wichtiger als alles andere.
An dem Abend sagte er zum ersten Mal, dass er mich liebe.
Ich mache mich von ihm los und wische mir so unauffällig wie möglich die Augen trocken. Ein Stück von Art entfernt sitzen noch drei Paare im Wartezimmer und ich möchte nicht, dass sie etwas mitbekommen. Ich lehne mich zurück, schließe die Augen und falte die Hände im Schoß. Ich konzentriere mich auf meinen Atem und versuche, mich von dem Aufruhr in meinem Kopf zu lösen.
Art liebt mich immer noch. Das weiß ich. Andernfalls hätte er das lange, furchtbare Jahr nach Beth nicht mit mir zusammen durchgestanden. Ganz zu schweigen von den sechs gescheiterten Versuchen mit künstlicher Befruchtung seither.
Manchmal frage ich mich allerdings, ob er mir überhaupt zuhört. Wie oft habe ich ihm geschildert, wie sehr mir die Besuche in der Klinik zusetzen? Die Höhen und Tiefen der künstlichen Befruchtung. Fast ein Jahr ist seit unserem letzten Versuch vergangen. Damals habe ich auf eine Pause bestanden, und Mr. Tam – wie er in den Onlineforen über Unfruchtbarkeit genannt wird – hat mich darin bestärkt. Art hat eingewilligt, und wir beide haben gehofft, ich würde vielleicht auf natürlichem Weg schwanger werden. Es gibt ja auch keinen Grund, warum das nicht klappen sollte – zumindest hat niemand einen feststellen können. Aber auch für die sechs vergeblichen Versuche gibt es keine Erklärung.
In den letzten Monaten hat Art mich immer wieder gedrängt, die Behandlung wieder aufzunehmen. Er hat diesen Termin für uns vereinbart. Dabei kann ich schon den bloßen Gedanken an eine weitere Runde kaum ertragen – an die damit verbundenen Nebenwirkungen und die psychische Belastung. Zu oft habe ich das alles durchgemacht: einen Zyklus einleiten, oder die Gelegenheit dazu verpassen, weil man fort ist. Die tägliche Untersuchung in der Klinik. An bestimmten Tagen zu bestimmten Zeiten seine Medikamente nehmen. Und dann stellt sich heraus, dass die Follikel nicht groß genug oder nicht zahlreich genug sind, oder dass die Embryos nicht überleben. Dann für einen oder zwei Zyklen aussetzen, wie besessen auf den Eisprung warten, dann auf das Einsetzen der Regel, und dann geht alles von vorn los. Und so weiter. Und nichts, nichts von alldem bringt sie jemals wieder zurück.
Beth. Mein Baby, das tot zur Welt kam.
All das möchte ich Art erzählen, aber dann müsste ich über Beth reden, die doch an einem sicheren Ort in meinem Kopf verwahrt ist, zusammen mit all dem Schmerz und der Trauer, an die ich nicht rühren kann, nicht rühren will.
»Mr. und Mrs.
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