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Seitenwechsel

Seitenwechsel

Titel: Seitenwechsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nella Larsen
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erstaunlicher, gedämpfter Bosheit, gut versteckt, bis sie geweckt wurde. Dann konnte sie kratzen, und das sehr eindrucksvoll. Und wenn man sie wütend machte, kämpfte sie mit einer Verbissenheit, die jede Gefahr, Übermacht oder Überzahl der anderen oder sonstige Widrigkeiten völlig außer Acht ließ. Wie hatte sie den Jungen an dem Tag zugesetzt, als diese selbstverfasste Spottverse auf ihren Vater gejohlt hatten, die seinen seltsamen Watschelgang aufs Korn nahmen! Und wie bewusst hatte sie –
    Irenes Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück, zu Clare Kendrys Brief, den sie noch immer ungeöffnet in der Hand hielt. Mit einem unguten Gefühl schnitt sie den Umschlag betont langsam auf, zog die gefalteten Seiten heraus, strich sie glatt und begann zu lesen.
    Es war genau das, was sie erwartet hatte, als sie dem Poststempel entnommen hatte, dass Clare in der Stadt war. Eine extravagant formulierte Bitte, sie wiederzusehen. Nun, sie musste ja nicht darauf eingehen, sagte Irene sich, nein, keinesfalls. Ebenso wenig würde sie Clare bei ihrem unsinnigen Wunsch unterstützen, für einen Augenblick in jenes Leben zurückzukehren, das sie vor langer Zeit und aus eigenen freien Stücken hinter sich gelassen hatte.
    Sie überflog den Brief und enträtselte, so gut sie konnte, die nachlässig hingeworfenen Wörter oder erriet sie instinktiv.
    »… Denn ich bin einsam, so einsam … sehne mich unaufhörlich danach, wieder bei dir zu sein, so wie ich mich noch nie nach irgendetwas gesehnt habe; und ich habe mir in meinem Leben schon viele Dinge gewünscht … Du kannst nicht ahnen, wie ich in diesem meinem farblosen Leben ständig die strahlenden Bilder jenes anderen Lebens vor mir sehe, von dem ich mich einst glücklich befreit wähnte … Es ist wie ein Schmerz, eine nie endende Pein …« Ein dünnes Blatt Papier nach dem anderen. Und schließlich endete der Brief: »… und es ist Deine Schuld, ’Rene, Liebes. Zumindest teilweise. Denn ich würde jetzt vielleicht nicht diese schreckliche, diese heftige Sehnsucht fühlen, wenn ich Dich nicht damals in Chicago getroffen hätte …«
    Hellrote Flecken zeigten sich auf Irene Redfields olivbraunen Wangen.
    »Damals in Chicago.« Die Worte hoben sich von all dem Wortschwall ab und brachten eine klar umrissene Erinnerung mit sich, in der sich selbst jetzt, nach zwei Jahren, Demütigung, Groll und Wut vermischten.

zwei
    An Folgendes erinnerte sich Irene Redfield.
    Chicago. August. Ein heller Tag, heiß, und eine grausame, grelle Sonne sandte Strahlen herab wie geschmolzenes Eis. Ein Tag, an dem selbst die Umrisse der Gebäude bebten, als protestierten sie gegen die Hitze. Zuckende Linien hoben sich ab vom trockenharten Straßenpflaster und schlängelten sich auf den glänzenden Schienen dahin. Die am Bordstein geparkten Autos waren ein flirrendes Leuchten, und die Schaufensterscheiben strahlten blendenden Glanz aus. Staubkörnchen wirbelten von den heißen Bürgersteigen auf und reizten die ausgetrocknete oder triefend nasse Haut ermatteter Fußgänger. Was es an schwacher Brise gab, schien wie der Hauch einer Flamme, die von einem Blasebalg träge angefacht wird.
    Genau an diesem Tag zog Irene los, um die Sachen zu kaufen, die sie ihren beiden kleinen Söhnen, Brian Junior und Theodor, aus Chicago mitzubringen versprochen hatte. Typischerweise hatte sie es aufgeschoben, bis nur einige wenige vollgestopfte Tage von ihrem langen Besuch blieben. Und einzig dieser schwüle Tag war bis zum Abend frei von Verpflichtungen.
    Ohne allzu viel Mühe hatte sie ein Blechflugzeug für Junior gekauft. Aber das Zeichenheft, für das Ted ihr so ernst und nachdrücklich präzise Anweisungen gegeben hatte, trieb sie dazu, nach und nach fünf Geschäfte aufzusuchen. Erfolglos.
    Als sie gerade unterwegs zu einem sechsten Laden war, kippte direkt vor ihren brennenden Augen ein Mann um und wurde zu einem reglosen Haufen auf dem brütend heißen Asphalt. Um die Gestalt herum scharte sich bald eine kleine Menge. »Ist der Mann tot oder nur ohnmächtig?«, fragte jemand sie. Aber Irene hatte keine Ahnung und wollte es auch nicht wissen. Sie drängte sich aus der wachsenden Menge, denn sie fühlte sich unangenehm feucht-klebrig und beschmutzt vom Kontakt mit so vielen schwitzenden Körpern.
    Einen Augenblick blieb sie stehen, fächelte sich Luft zu und betupfte ihr feuchtes Gesicht mit dem Zipfel eines Taschentuchs. Plötzlich wurde sie gewahr, wie die ganze Straße etwas Schwankendes bekam, und

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