Seitenwechsel
nicht taktvoller, so zu tun, als hätte sie einfach vergessen zu fragen, wie sie die zwölf Jahre verbracht hatte?
›Wenn‹. Es war das ›Wenn‹, das sie beunruhigte. Es könnte ja durchaus sein, dass entgegen allem Klatsch und allem äußeren Anschein das Gegenteil zutraf: dass es nichts gab, nichts gegeben hatte, was sich nicht einfach und unschuldig erklären ließe. Der äußere Schein, das wusste sie jetzt, entsprach manchmal nicht den Tatsachen, und wenn Clare nicht – Nun, wenn sie alle sich geirrt hatten, dann sollte sie Interesse bekunden an dem, was sie erlebt hatte. Wie seltsam und unhöflich wäre es, wenn sie das nicht täte. Doch wie sollte sie das definitiv wissen? Sie entschied schließlich, dass es unmöglich war, und so wiederholte sie bloß: »Ich muss weg, Clare.«
»Bitte, nicht so schnell, ’Rene«, bat Clare, ohne sich zu rühren.
Irene dachte, sie sieht wirklich fast zu gut aus. Es ist daher kaum verwunderlich, dass sie –
»Und jetzt, ’Rene, Liebes, wo ich dich gefunden habe, habe ich vor, dich ganz, ganz oft zu sehen. Wir sind hier mindestens einen Monat. Jack, mein Mann, hat hier geschäftlich zu tun. Mein armer Schatz! In dieser Hitze. Ist die nicht abscheulich? Komm doch zum Abendessen zu uns, ja?« Sie gab Irene einen kurzen, neugierigen Seitenblick, und ein verschmitztes, ironisches Lächeln erschien auf ihren vollen roten Lippen, als sei sie in die Gedanken ihres Gegenübers eingeweiht und verspotte sie nun.
Irene merkte, wie sie scharf Luft holte, aber ob aus Erleichterung oder Enttäuschung, hätte sie selbst nicht sagen können. Sie sagte hastig: »Leider kann ich nicht, Clare. Ich bin völlig ausgelastet. Abendessen und Bridge. Tut mir leid.«
»Dann komm stattdessen morgen zum Tee«, beharrte Clare. »Du wirst Margery sehen, sie ist gerade zehn geworden – und vielleicht auch Jack, falls er nicht einen Termin hat oder sonst was.«
Von Irene kam ein kleines, unsicheres Lachen. Sie hatte auch für den nächsten Tag eine Verpflichtung und fürchtete, Clare würde es ihr nicht glauben. Plötzlich störte sie diese Möglichkeit. Und sie war leicht irritiert wegen des unverdienten Schuldgefühls, das sie auf einmal verspürte, als sie erklärte, es sei nicht möglich, weil sie weder für Tee noch für Lunch oder auch Abendessen Zeit habe. »Und kommenden Freitag fahre ich fürs Wochenende weg, Idlewild, weißt du. Das ist momentan recht beliebt.« Und dann hatte sie einen Einfall.
»Clare!«, rief sie aus. »Warum kommst du nicht gleich mit mir? Unser Haus ist wahrscheinlich schon voll – Jims Frau hat so eine Art, eine Meute der unmöglichsten Leute zusammenzuscharen –, aber wir finden noch ein Plätzchen für einen weiteren Gast. Und du wirst absolut jeden sehen.«
Im gleichen Augenblick, wo sie die Einladung aussprach, bedauerte sie es schon. Welchem törichten, welchem idiotischen Impuls hatte sie da nachgegeben! Sie stöhnte innerlich bei dem Gedanken an die endlosen Erklärungen, die sie würde abgeben müssen, an die Neugier und das Gerede und die hochgezogenen Augenbrauen. Es war nicht so, versicherte sie sich, dass sie snobistisch war, dass sie sich sehr um die kleinlichen Beschränkungen und Unterschiede kümmerte, mit der es die sogenannte feine Gesellschaft der Schwarzen vorzog, sich abzukapseln; aber sie hatte eine natürliche, tiefsitzende Abneigung gegenüber der Sorte von Titelblatt-Prominenz, der sie durch Clare Kendrys Anwesenheit in Idlewild ausgesetzt sein würde. Und hier nun lud sie – pervers und gegen jede Vernunft – Clare ein.
Doch Clare schüttelte den Kopf. »Ich würde wirklich liebend gern kommen, ’Rene«, sagte sie ein wenig traurig. »Nichts, was ich lieber täte. Aber ich kann nicht. Ich darf nicht, weißt du. Es ginge überhaupt nicht. Was du bestimmt verstehst. Ich bin sehr begierig darauf, zu kommen, aber ich kann nicht.« Die dunklen Augen glitzerten, und ihre rauchige Stimme zitterte kaum merklich. »Und glaub mir, ’Rene, ich danke dir sehr, dass du mich eingeladen hast. Denk nicht, ich hätte völlig vergessen, was das für dich bedeuten würde, wenn ich käme. Das heißt, wenn dir noch an solchen Dingen liegt.«
Keine Spur von Tränen mehr in den Augen und in der Stimme, und Irene Redfield, die ihr forschend ins Gesicht sah, war verletzt, dass hinter der jetzt nur noch elfenbeinfarbenen Maske spöttische Heiterkeit lauerte. Sie richtete den Blick auf die Wand weit hinter Clare. Sie hatte es wohl verdient, denn, wie
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