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Seitenwechsel

Seitenwechsel

Titel: Seitenwechsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nella Larsen
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erkannte oder vermutete ihre Rasse. Beweisen konnte sie es nicht.
    Plötzlich wuchs ihr kleiner Schrecken. Ihre Nachbarin war aufgestanden und näherte sich ihr. Was würde jetzt passieren?
    »Entschuldigen Sie«, sagte die Frau freundlich, »ich glaube, ich kenne Sie.« Ihre leicht rauchige Stimme hatte einen anrüchigen Ton.
    Als Irene aufblickte, schwanden ihre Befürchtungen und Ängste. Sie konnte die Wärme dieses Lächelns nicht falsch auffassen, konnte auch nicht seinem Charme widerstehen. Sofort kapitulierte sie und sagte lächelnd: »Es tut mir leid, Sie irren sich.«
    »Na so was, natürlich kenne ich dich!«, rief die andere aus. »Sag nicht, dass du nicht Irene Westover bist. Oder nennt man dich noch immer ’Rene?«
    In dem kurzen Moment vor ihrer Antwort versuchte Irene vergeblich, sich zu erinnern, woher diese Frau sie kennen mochte. Chicago jedenfalls. Und vor ihrer Heirat. So viel war klar. Highschool? College? Von den Treffen des Christlichen Vereins Junger Frauen? Höchstwahrscheinlich Highschool. Welche weißen Mädchen hatte sie denn gut genug gekannt, um von ihnen vertraut mit ’Rene angeredet zu werden? Die Frau vor ihr passte zu keiner Erinnerung. Wer war sie?
    »Ja, ich bin Irene Westover. Und wenn mich auch niemand mehr ’Rene nennt, tut es gut, den Namen wieder zu hören. Und Sie –« Sie zögerte, beschämt, dass sie sich nicht erinnern konnte, und hoffte, dass der Satz für sie beendet würde.
    »Kennst du mich nicht? Wirklich nicht, ’Rene?«
    »Tut mir leid, aber im Augenblick kann ich Sie anscheinend gerade nicht einordnen.«
    Irene betrachtete genau das reizende, neben ihr stehende Wesen. Wer könnte sie sein? Wo und wann hatten sie sich kennengelernt? Und durch ihre Verwirrung hindurch kam der Gedanke, dass der Streich, den das Gedächtnis ihr spielte, aus irgendeinem Grund für ihre alte Bekannte eher befriedigend als enttäuschend war und dass es ihr nichts ausmachte, nicht wiedererkannt zu werden.
    Und jetzt hatte Irene das Gefühl, dass auch sie kurz davor stand, sich an sie zu erinnern. Denn diese Frau hatte ein gewisses Fluidum, ein nicht greifbares Etwas, zu vage, um es zu bestimmen, zu unnahbar, um es zu fassen, aber für Irene Redfield war es sehr vertraut. Und diese Stimme. Diese rauchigen Töne hatte sie doch schon gehört. Vielleicht bevor Zeit, gesellschaftliche Beziehungen oder Sonstiges auf sie eingewirkt und sie zu einer Stimme geformt hatten, die von fern an England denken ließ. Ah! Könnte es in Europa gewesen sein, dass sie sich kennengelernt hatten? ’Rene. Nein.
    »Vielleicht«, begann Irene, »Sie –«
    Die Frau lachte, ein liebliches Lachen, eine kleine Tonfolge wie ein Triller und auch wie das Läuten eines Glöckchens aus Edelmetall, ein Geklingel.
    Irene holte schnell und kurz Atem. »Clare!«, rief sie aus. »Doch nicht wirklich Clare Kendry?«
    So groß war ihre Verwunderung, dass sie unwillkürlich aufstehen wollte.
    »Nein, nein, bleib sitzen«, forderte Clare Kendry und setzte sich selbst. »Du bleibst jetzt und wir reden. Wir nehmen noch etwas. Tee? So was, dich hier zu treffen! Was für ein Glück, ein Riesenglück!«
    »Wahnsinnig überraschend«, sagte Irene und erkannte, als sie die Änderung in Clares Lächeln sah, dass sie einen Winkel ihrer Gedanken preisgegeben hatte. Aber sie sagte nur: »Ich hätte dich in dieser Umgebung nie erkannt, wenn du nicht gelacht hättest. Du hast dich verändert. Und doch, in gewisser Hinsicht bist du genau dieselbe.«
    »Vielleicht«, antwortete Clare. »Einen Augenblick.«
    Sie schenkte ihre Aufmerksamkeit dem Kellner an ihrer Seite. »Mm, mal sehen. Zwei Tee. Und bringen Sie Zigaretten. Jaa, schon in Ordnung. Danke, das wär’s.« Wieder das seltsame Lächeln nach oben. Jetzt war Irene sich sicher, dass es zu aufreizend für einen Kellner war.
    Während Clare die Bestellung aufgab, überschlug Irene es schnell im Kopf. Schätzungsweise zwölf Jahre mussten es her sein, seit sie oder sonst eine ihrer Bekannten Clare Kendry gesehen hatte.
    Nach dem Tod ihres Vaters war sie zu Verwandten gekommen, Tanten oder Cousinen zweiten oder dritten Grades, irgendwo auf der West Side: zu Verwandten, von denen niemand etwas gewusst hatte, bis sie auf dem Begräbnis aufgetaucht waren und Clare zu sich genommen hatten.
    Danach ließ sie sich etwa ein Jahr lang hin und wieder bei ihren alten Freundinnen und Bekannten auf der South Side für Stippvisiten blicken, die, so verstand man es, immer von den unzähligen

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