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Seitenwechsel

Seitenwechsel

Titel: Seitenwechsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nella Larsen
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dafür.
    Clare würde bald auftauchen. Sie musste sich beeilen, sonst würde sie wieder zu spät dran sein, und die beiden würden zusammen unten auf sie warten, wie so oft seit dem ersten Mal, das ewig lang zurückzuliegen schien. War es wirklich erst im vergangenen Oktober gewesen? Sie zumindest fühlte sich um Jahre, nicht bloß Monate, gealtert.
    Lustlos stand sie auf und ging nach oben, um sich fürs Ausgehen anzuziehen, während sie doch so viel lieber zu Hause geblieben wäre. Beim Zurechtmachen fragte sie sich zum hundertsten Mal, wieso sie Brian nicht erzählt hatte, wie sie und Felise am Tag zuvor mit Bellew zusammengestoßen waren, und zum hundertsten Mal unterließ sie es, sich den wahren Grund einzugestehen.
    Als Clare erschien, strahlend in einem glänzend roten Kleid, war Irene noch nicht fertig. Aber ihr Lächeln kam prompt, als sie Clare begrüßte: »Anscheinend halte ich mich an das ständige Zuspätsein der Farbigen, nicht? Wir haben kaum damit gerechnet, dass du es schaffst. Felise wird sich freuen. Wie schön du aussiehst.«
    Clare küsste eine nackte Schulter und schien das leichte Zurückweichen nicht zu bemerken.
    »Ich selbst hatte keinen blassen Schimmer, dass ich es hinkriegen würde, aber Jack musste unerwartet nach Philadelphia runter. Und da bin ich.«
    Irene schaute auf, Worte drängten sich ihr auf die Zunge. »Philadelphia. Das ist nicht sehr weit weg, nicht? Clare, ich –«
    Sie hielt inne, eine Hand umklammerte die Seite ihres Stuhls, die andere lag zur Faust geballt auf der Frisierkommode. Warum sprach sie nicht weiter und erzählte Clare von der Begegnung mit Bellew? Warum konnte sie das nicht?
    Aber Clare bemerkte nicht den unbeendeten Satz. Sie lachte und sagte leichthin: »Für mich ist das weit genug entfernt. Irgendwo, weg von mir, ist weit genug. Ich bin nicht wählerisch.«
    Irene strich sich mit der Hand über die Augen, um das vorwurfsvolle Gesicht im Spiegel vor sich auszublenden. Wie beiläufig überlegte sie sich, wie lange sie schon so aussah, so verhärmt und abgespannt und – ja, verängstigt. Oder war das bloß Einbildung?
    »Clare«, fragte sie, »hast du je ernsthaft daran gedacht, was es bedeuten würde, wenn er dir auf die Schliche käme?«
    »Ja.«
    »Ah! Gut! Und auch was du in diesem Fall machen würdest?«
    »Ja.« Und nach diesen Worten lächelte Clare Kendry rasch, ein Lächeln, das blitzartig erschien und verschwand und den Ernst ihres Gesichts unberührt ließ.
    Das Lächeln und die ruhige Entschiedenheit dieses einen Worts ›Ja‹ erfassten Irene mit einer Urangst, die sie lähmte. Ihre Hände waren taub, ihre Füße wie Eis, ihr Herz schwer wie ein Stein. Selbst ihre Zunge war wie etwas Schweres, Absterbendes. Es gab längere Pausen zwischen den Wörtern, als sie fragte: »Und was würdest du tun?«
    Clare, die in einen tiefen Sessel gesunken war, den Blick in die Ferne gerichtet, schien in eine angenehme, undurchdringliche Betrachtung vertieft. Für Irene, die aufrecht und gespannt dasaß, dauerte es endlos, bis Clare sich in die Gegenwart zurückholte und seelenruhig sagte: »Ich würde auf der Stelle tun, was ich mehr als alles andere im Augenblick tun möchte. Ich würde zum Leben hierherkommen. Nach Harlem, meine ich. Dann würde ich das tun können, wozu ich Lust habe, wann immer ich Lust habe.«
    Irene beugte sich vor, kalt und angespannt: »Und was ist mit Margery?« Ihre Stimme war ein angestrengtes Flüstern.
    »Margery?«, wiederholte Clare und ließ den Blick über Irenes besorgtes Gesicht gleiten. »Nur dies eine, ’Rene. Wenn sie nicht wäre, würde ich es ohnehin machen. Sie allein hält mich zurück. Wenn Jack es aber herausfindet, wenn unsere Ehe in die Brüche geht, bin ich doch frei. Oder?«
    Ihr sanfter, resignierter Ton, ihre Miene unschuldiger Aufrichtigkeit kamen ihrer Zuhörerin falsch vor. Irene war mit einem Mal überzeugt, dass die Worte als Warnung gemeint waren. Sie erinnerte sich, dass es ihr immer so vorgekommen war, als wüsste Clare Kendry, was andere gerade dachten. Ihre Lippen pressten sich fest und hart aufeinander. Diesmal jedenfalls würde sie es nicht erfahren.
    Sie sagte: »Geh doch nach unten und sprich mit Brian. Er hat eine Stinkwut.«
    Obwohl sie entschlossen war, dass Clare nichts von ihren Gedanken und Ängsten erfahren sollte, waren ihr die Worte unbedacht herausgerutscht. So, als wären sie einer Außenschicht von Unempfindlichkeit entsprungen, die keinerlei Verbindung zu ihrem gequälten Herzen

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