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Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)

Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)

Titel: Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raphael M. Bonelli
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unflexible psychische Struktur auch nicht als unvollkommen dastehen. Mit demonstrativer Entrüstung und vorgeschobenem »Reformwillen« (Angst macht aggressiv) streben sie danach, ihrer Glaubensgemeinschaft ihr eigenes Lebensmodell aufzuzwingen – das natürlich mit einer echten Reform nichts zu tun hat. Das ist im Grunde Instrumentalisierung der Religion für egozentrische Zwecke. In der jüdischen Thora wird das Phänomen des vorgeschobenen Reformwillens in der Erzählung vom Goldenen Kalb anschaulich geschildert. Durchsichtiger, billiger Selbstbetrug: Nicht das persönliche Leben wird nach dem religiösen Gebot ausgerichtet, sondern das Gebot nach dem persönlichen Leben umgeschrieben. Die Abschaffung des Schuldbegriffs, um die neurotische Selbstgerechtigkeit zu befriedigen, ist jedoch für den ängstlichen Perfektionisten mit einer anstrengenden Arbeit verbunden: mit der Verdrängung der eigenen Fehlerhaftigkeit, die sich in Aggressionsdurchbrüchen gegen jegliche moralische Normen Erleichterung verschafft.
    Ichhaftigkeit und Hochsensibilität
    Die neurotische Ichhaftigkeit gehört zu den Grundnahrungsmitteln unseres Unschuldslamms. Die gesamte innere Argumentation, die Ebenezer Scrooge von seiner Verlobten befreit und zu seiner Selbstverwirklichung führt, ist Ichhaftigkeit im klassischen Sinn. Er verliert vor lauter Ich das Du aus den Augen. In der Alltagssprache verwendet man häufig die verwandten Begriffe »Egoismus«, »Egozentrik« und »er ist sich selbst der Nächste«. In der Psychodynamik ist die Ichhaftigkeit im Gebiet der Neurose verortet, wie auch der Perfektionismus, mit dem sie sich teilweise überlappt.
    Was genau neurotisch ist, kann übrigens keiner präzise sagen. Selbst die Begründer der drei Wiener Psychotherapieschulen sind hier unterschiedlicher Meinung: Sigmund Freud meinte, dass Neurosen entstünden, wenn Sexualität unterdrückt werde. Alfred Adler, Freuds geschasster Kronprinz, postulierte hingegen Neurosen als Minderwertigkeitsgefühle, als Machtdefizit, mit dem man nicht klarkomme. An anderen Stellen wiederum bezeichnet Adler die Neurose als Lebensirrtum und Flucht: Flucht vor einer Aufgabe, Flucht vor der Innerlichkeit, Flucht vor der Leiblichkeit, Flucht vor Konflikten oder Flucht vor der Gesellschaft. Viktor Frankl wiederum erklärte eine Neurose mit dem Leiden am sinnlosen Leben. Bis heute gibt es dazu keinen wissenschaftlichen Konsens. Deshalb hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den Begriff größtenteils aus ihrer Klassifikation der psychischen Krankheiten entfernt. Jetzt gibt es eben keine Angstneurose mehr, sondern eine Angststörung, keine Zwangsneurose, sondern eine Zwangsstörung. Allerdings heißt das Kapitel 4 der »Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme« bis heute »Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen«. Also doch wieder Neurose? Wir Psychiater bleiben unklar.
    Diese akademische Diskussion ist dem Neurotiker aber ziemlich egal. In der psychotherapeutischen Praxis brauchbar ist folgende Definition: Neurose ist ein angstvolles Kreisen um sich selbst, das den Menschen letztlich blockiert. Der Neurotiker stellt sich selbst ein Bein, hat enorm viel Angst um sich selbst, und diese Angst lähmt ihn und isoliert ihn von seinen Mitmenschen. Alle seine Angstszenarien sind – anders als beim Psychotiker – rational nachvollziehbar und sogar überprüfbar, aber er setzt überproportional viel Emotion an dieser Stelle ein. Dadurch kommt es letztlich zu einer Fehleinschätzung, die Angst zur logischen Folge hat. Ein Beispiel: Der Sozialphobiker (belastet mit einer Art der Neurose) hat die Panik, dass er etwas tut, worüber die Leute dann reden würden. Tatsächlich reden Leute immer über andere Leute. Er hat also Angst vor etwas, das nicht vermeidbar ist. Natürlich: Wenn man nicht präsent ist, dann reden sie freilich weniger, als wenn man »auf der Bühne« steht. Trotzdem ist das letztlich kein Grund, nicht mehr aus dem Haus zu gehen. Der Neurotiker sieht die Gefahr und überschätzt sie. Er schiebt innerlich die Kommastellen der Wahrscheinlichkeit eines bedrohlichen Ereignisses nach links, starrt wie die Maus vor der Schlange auf die (sehr unwahrscheinliche, aber immerhin mögliche) Gefahr und wird so im Extremfall lebensunfähig.
    Der bedeutende Berliner Individualpsychologe Fritz Künkel war der wichtigste Schüler von Alfred Adler. Um die neurotische Entwicklung richtig zu beschreiben, hat

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