Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
er den Terminus der Ichhaftigkeit eingeführt und diese als Gegensatz zur Sachlichkeit definiert. Fritz Künkel erzählt in seiner »Einführung in die Charakterkunde« folgenden Fall, um seine Hypothese plakativ zu skizzieren: »Man stelle sich vor, dass ein alter Mann auf der Straße hingefallen ist und dass ein jüngerer herbeieilt, um ihm zu helfen. Eine solche Hilfeleistung kann zwei verschiedenen Zwecken dienen. Entweder ist ihr Zweck, dass dem Verunglückten geholfen werde, oder aber, dass der Helfer sich durch seine gute Tat ein Verdienst erwerbe. Überwiegt der erste Zweck, so nennen wir die Funktion des Handelnden ›sachlich‹ oder ›wirhaft‹, überwiegt der zweite, so nennen wir sie ›ichhaft‹ oder unsachlich.«
Tatsächlich gibt es in der klinischen Praxis jede Menge Patienten, die genau dieses Problem haben. Menschen, die in sich selbst gefangen sind und es nicht einmal merken. Selbst ihre scheinbare Selbstlosigkeit ist vor lauter Ich schwer zu ertragen. Ichhaftigkeit bezeichnet bei Künkel eine Egozentrik, die jede eigene Handlung und auch jedes andere Ereignis sogleich und intensiv in Beziehung zu sich selbst setzt: Ein solcher Mensch kann nie von sich selbst absehen. Dadurch erhält das Leben eine Schwere, mit der manche Hürden nicht mehr genommen werden können.
FALL 8: Herr Sigfried K. kommt in die Praxis und beginnt, kaum dass er auf der Couch sitzt, über seine Ehe zu klagen. Was seine Frau ihm alles antue! Ungeheuerlich! Er lässt sich auch vom Psychiater in seinem Redeschwall nicht unterbrechen. Sichtlich konnte der Herr sich lange Zeit nicht erleichtern. Ein Martyrium, das dieser arme Mann da erleiden muss! Er zeichnet das Psychogramm einer Schwerverbrecherin. Offenbar ist nichts Gutes an ihr zu finden. Die erste Therapieeinheit wird vollständig mit den seelischen Grausamkeiten der Gattin verbraucht. In der Mitte der zweiten Stunde wagt der Psychiater die Frage: »Können Sie mir bitte die positiven Eigenschaften Ihrer Frau nennen?« Erstmals Schweigen. Gequältes Nachdenken. Auf so komische Fragen können nur Psychotherapeuten kommen. Herr K. fühlt sich unverstanden. Es kommt keine Antwort. Der Psychiater versucht zu helfen: »Sie haben diese Frau doch geheiratet – damals kann es doch noch nicht so schlimm gewesen sein.« Das hilft: »Nein, da war es noch nicht so schlimm. Aber im Grunde …« – die oben beschriebene Leier geht weiter. »So ein Ungeheuer heiratet man doch nicht«, wirft der Therapeut ein. »Doch, denn das hat sie alles geschickt verborgen. Sie hat mich reingelegt.«
Okay, das ist eine Sackgasse. So kommt man nicht weiter. Der Psychiater tritt den Rückzug an und versucht behutsam einen anderen Weg: Er würde gerne mit Herrn K. erarbeiten, welchen Anteil er selbst an diesem ehelichen Konflikt habe. Da bricht die Entrüstung aus dem gequälten Ehemann heraus: »Ja glauben Sie vielleicht, ich bin da selber schuld?« Der Psychiater rudert zurück: »Nein, natürlich nicht, ich frage ja nur.« Aber jeder habe doch Fehler. Ob nicht auch er selbst den einen oder anderen kleinen Fehler habe? »Natürlich! Jeder Mensch macht Fehler.« Man kommt langsam voran. Licht am Ende des Tunnels! Ob man sich vielleicht einmal kurz diesen klitzekleinen Fehlern zuwenden könnte? Welche genau wären das denn in seinem speziellen Fall? »Weiß ich nicht.« Der Psychiater schweigt vielsagend. Der Patient auch. Angestrengtes Nachdenken. Dann seine zerknirschte Selbstoffenbarung: »Einen Fehler habe ich – ich war immer zu gutmütig!«
ANALYSE: Sigfried K. kann aufgrund seiner Ichhaftigkeit die Ehesituation nur als Schuld der Partnerin interpretieren. Die Fehlerlosigkeit des Herrn K. verhindert Selbstreflexion, Beziehungsfähigkeit, Vergebung und damit Handlungsspielraum.
Künkel bezeichnet das als Gefangenschaft im Ich: »Das wichtigste Symptom der Ichhaftigkeit ist die innere Vereinsamung, der Mangel an Verbindung von Herz zu Herz. Alle anderen Nöte und Leiden wie etwa die Freudlosigkeit, die Verödung der Ziele und vor allem das häufigste und schwerste Symptom der Verirrung, nämlich die Angst, stellen sich bei genauerer Nachforschung als die direkten oder indirekten Abkömmlinge der inneren Vereinsamung dar.« Tatsächlich ist die Selbstisolation des Neurotikers immer wieder bemerkenswert, insbesondere da er selbst am meisten darunter leidet. Mangel an Verbindung von Herz zu Herz, Freudlosigkeit, Verödung der Ziele und Angst sind alles Phänomene, denen man oft in der
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