Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
psychiatrischen Praxis begegnet. Wer das gesamte Leben des Ebenezer Scrooge kennt, wird wissen, wie er nach der eingangs geschilderten Episode vereinsamt. Ichhaftigkeit ist letztlich ein Mangel an Freiheit, reduziert den Handlungsspielraum. Sie zieht so starke Mauern, dass oft nur ein harter Schicksalsschlag den Patienten befreien kann.
Man kann in der Erziehung Ichhaftigkeit richtiggehend züchten – indem auch die Eltern immer um das Kind kreisen, dem Kleinen immer recht geben, Fremdbeschuldigung anerziehen. Der Kinderpsychiater und Analytiker Michael Winterhoff hat in seinen Büchern eine brauchbare Anleitung gegeben, wie man es vermeiden kann, dass sich Kinder zu kleinen Tyrannen entwickeln. Das Kind wird nach Winterhoffs Hypothese in der Wichtigkeit und oft auch in der Familienhierarchie überwertet und wie ein kleiner Erwachsener behandelt. Durch die Schuld der Eltern versäumt das Kind zu lernen, sich in eine menschliche Gemeinschaft (Familie) einzuordnen und sich Autoritäten (den Eltern) unterzuordnen. Dadurch kommt es irgendwann zu einer Machtumkehr, die das Kind zum Tyrannen macht und ihm so die Chance auf eine gesunde Entwicklung verbaut. Ursache dieser Überwertung ist oft eine ichhafte, ja narzisstische »Liebe« der Eltern zum Kind, in der das Kind mehr die Funktion der Icherhöhung der Eltern hat, als dass die Eltern ihre Erziehungspflichten wahrnehmen. Die Konstellation des Einzelkindes und des Scheidungskindes ist da besonders gefährdend, Zweiteres weil beide Eltern im Wettstreit um die Liebe des Kindes buhlen müssen.
Zu Künkels Modell passt die Theorie von Rudolf Allers, einem späten Adler-Schüler. Er sieht in der Neurose in erster Linie die Unechtheit, welche unvereinbar ist mit echter Hingabe. Zu seiner Stellung als Geschöpf könne der Neurotiker kein Ja sprechen, denn er sei grundsätzlich egozentrisch. Allerdings ist bei Allers fast jeder Mensch ein Stück weit neurotisch: »… jenseits der Neurose steht nur der Heilige.« Johannes B. Torello beschreibt die Neurose als »Persönlichkeit in der Sackgasse«: Es komme zur inneren Spaltung, zu Komplikationen, Egozentrismus und Unbeständigkeit der Gefühle.
FALL 9: Friedrich K., ein junger Musiker, sucht den Psychiater auf, weil er Schwierigkeiten habe, seine musikalische Leistung abzurufen. Er sei Geiger und anscheinend recht begabt. Schon in seinem Alter dürfe er in einem prominenten Wiener Orchester mitspielen. Doch sein Problem sei, dass er aufgrund einer chronischen Niedergeschlagenheit wenig Kraft zum Üben aufbringen könne und noch dazu im Orchester wesentlich schlechter spiele als zu Hause. Er wisse nicht, warum. K. hat ein bescheidenes Auftreten und höfliche Umgangsformen, weswegen er auch von einer alten Gräfin finanziell unterstützt wird. Erst nach längerer Zeit kann der Psychiater die Blockade freilegen: Der Patient gesteht sich selbst in einer Schlüsselstunde ein, dass er »größenwahnsinnige Phantasien« habe: dass er der beste Geiger auf der Welt sei, das größte Talent seit Niccolò Paganini, das die Welt je gesehen hat, dass seine Lehrer ihm in keiner Weise das Wasser reichen könnten, dass im Orchester alle auf ihn schauen würden, dass Üben keinen Sinn habe, da er einerseits das größte Talent sei und es andererseits nicht aushalte, nur der zweitbeste Geiger der Welt zu sein (hier ist er ausgeprägt ambivalent). Im Orchester sei er stets innerlich aufgebracht, wenn die erste Geigerin ihm – dem Jüngsten – Anweisungen gebe, denn deren mickrige Spielkunst habe er schon im Alter von acht Jahren überflügelt. Er kämpfe sehr gegen diese Gedanken, sie seien ihm ausgesprochen peinlich, und er habe sie noch niemandem erzählt. In der Therapie kann der Patient langsam über seine Phantasien lachen. Der Psychiater erarbeitet mit ihm das Konzept der Ichhaftigkeit und der ichhaften Vereinsamung. K. kauft sich zwei Bücher von Fritz Künkel und verschlingt sie. »Das bin ich!«, berichtet er strahlend, als er nach einer Woche wiederkommt. Die Lösung für Friedrich K. ist schließlich, seine Musik als Dienst an den anderen zu sehen. »Dienen statt glänzen« wird sein Motto, mit dem er sich wieder ins Orchester einfügen kann. Nun kann er sich erstmals auf die Musik statt auf sich selbst konzentrieren. Später berichtet er dem Therapeuten, dass er jetzt erkannt habe, dass nur demütige Musik echte Kunst sei.
ANALYSE: Ichhaftigkeit ist durch Selbsterkenntnis, die auch über sich zu schmunzeln erlaubt,
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