Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
gesagt, dass nicht das Bemühen um eine gutgemachte Arbeit oder das Hochhalten eines Ideals dem zugrunde gelegt ist, sondern die ängstliche Sorge, hinter dem Ideal zurückzubleiben. Perfektionisten halten die natürliche Spannung zwischen dem »Soll« (dem Ideal) und dem »Ist« (der fehlerhaften Realität) nicht aus. Manche von ihnen schrauben zudem auch die Latte unerträglich hoch. Im Wesentlichen ist aber jeder Hinweis auf einen (menschlichen) Fehler für den Perfektionisten unerträglich und fast existenziell bedrohlich. Er kann sich nicht mit der simplen Tatsache versöhnen, dass Fehlerhaftigkeit dem Menschen immer anlastet – und dass das eigentlich ganz in Ordnung ist.
Wir leben zunehmend in einer perfektionistischen Gesellschaft – mit Nulltoleranz gegen Fehler. Das macht einerseits das Leben wirklich fad, und andererseits ist dadurch Bluffen an der Tagesordnung. Zur Marscherleichterung wurden manche Laster zur Tugend uminterpretiert und damit vordergründig moralischer Druck abgelassen. Aber neue Regeln folgen, und der neue Moralkodex verlangt penibelste Befolgung. Einerseits wird das »Ist« innerlich geleugnet und verdrängt, andererseits das »Soll« nach dem »Ist« umgeschrieben.
Perfektionisten zeichnen sich durch Pflichtbewusstsein, Verlässlichkeit, Pedanterie und Rigidität aus – und können sehr ungemütlich werden, wenn ihre Fehlerlosigkeit auch nur andeutungsweise in Frage gestellt wird. Ein perfektionistischer Mitarbeiter etwa – und davon gibt es viele – muss immer klarstellen, dass sein Auftrag ganz genau dieser war, wenn die Chefin etwa eine Änderung in einem Briefentwurf moniert. Auch dann, wenn die Chefin nicht den Funken eines Vorwurfes macht. Perfektionismus ist im Grunde ein neurotisches Phänomen, präziser formuliert ein zwangsneurotisches – und eine Form von unglücklicher, humorloser Unfreiheit. Der Neurotiker hält das idealisierte Ich für das Ideal – also sich selbst (verzerrt ins Fehlerlose) für das Maß aller Dinge. Hier befindet er sich schon an der Grenze zum Narzissmus, aber im Gegensatz zum Narzissten ist der perfektionistische Neurotiker voll Ängstlichkeit. Für ihn ist jede Schuld eine persönliche Bedrohung und nur der leiseste Verdacht muss heftig abgewehrt werden. Weil er nämlich nicht weiß, wie er sie wieder loswerden kann. Und man darf sich schon gar nicht dabei ertappen lassen: Was könnten die anderen denken?
Interessanterweise spricht auch der Publizist Martin Lohmann von einer »regelrechten Angst vor der ganz normalen Wirklichkeit«. Lohmann sagt: »Weil wir den vermeintlichen Makel der persönlichen Schuldfähigkeit leugnen und uns in die Höhen selbstprojizierter Makellosigkeit schrauben, können wir die Realität nicht mehr ertragen. Und die heißt: Ich mache Fehler und werde schuldig. … Dabei beginnt eigentlich jede Freiheit erst mit dem Ja zu sich selbst und zur eigenen Schuld …«
Sigmund Freud hat anschaulich herausgearbeitet, dass die narzisstische Kränkung dort Platz greift, wo das idealisierte Selbst sich zu sehr vom realen Ich entfernt. Anders formuliert: Je mehr sich jemand ein geschöntes Bild von sich selber zurechtlegt, umso eher ist er kränkbar, wenn er mit der Realität konfrontiert wird. Schuld ist aber, und das ist eine Weiterentwicklung des Freudschen Konzepts, auch eine Realität im menschlichen Leben. Durch das Annehmen seiner Schuld können die schmerzhaft verdrängten Anteile der eigenen Schuld wieder heilsam in das Bewusstsein integriert werden, wodurch auch die neurotischen Anteile einer Person reduziert werden, weil weniger Verdrängungsarbeit notwendig ist. Schuldverdrängung und Perfektionismus hängen auch noch anders zusammen: Wer keine Möglichkeit sieht, mit Schuld so umzugehen, dass er sie bewältigen und irgendwie wieder loswerden kann, muss sie zwangsläufig verdrängen und »perfekt« sein, weil unbewältigte Schuld auf Dauer nicht auszuhalten ist.
FALL 7: Irmgard J., eine resolute 60-jährige Dame, schleppt ihren 65-jährigen Gatten Gunthard zum Psychiater, weil dieser in karitativer Gesinnung eine höhere Summe hergeschenkt hatte. Hier gehe es natürlich weniger um die Summe als um das Prinzip! »Wie kann er unser Geld einfach irgendwelchen Leuten in den Rachen werfen? Ohne mich zu fragen! Noch dazu Ausländern!« Frau J. ist schwer zu beruhigen, und es dauert eine halbe Stunde, bis der Psychiater mit einer Frage bis zum Täter vordringen kann. »Ich habe meine Frau nicht gefragt, weil sie
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