Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
unendlich geizig ist – sie hat seit 40 Jahren noch nie Almosen gespendet.« Aber sie zahle ihre Steuern pflichtbewusst, das seien auch Almosen, lautet ihre spitze Replik. Sie setzt nach: »Ich bin sparsam, im Gegensatz zu dir. Wo wären wir ohne meine Sparsamkeit?«
Der Psychiater versucht seine Rolle als Arzt nicht aus den Augen zu verlieren und fragt nach seiner Aufgabe in diesem Konflikt. Der Auftrag von Irmgard J. lautet, der Fachmann möge Gunthard J. untersuchen, ob er denn nicht wahnsinnig sei. Der Psychiater untersucht ihn. Er ist es nicht. Dann wolle sie eine Paartherapie, um ihn zu verpflichten, ihr gemeinsames Geld in Zukunft nicht mehr zu verschleudern. Man findet einen Modus. Der Mann sieht seinen Fehler ein und bittet um Verzeihung. Sie glaubt ihm die Ernsthaftigkeit der Entschuldigung aber nicht.
Später nimmt Frau J. noch Einzelstunden, um das Trauma zu verarbeiten und um ihrem Mann verzeihen zu können. Ihr Selbstbild als sparsame, pflichtbewusste und vorbildliche Frau ist kurz ins Wanken geraten durch den kleinen Kommentar des Gatten, sie sei knausrig und engstirnig, und ohne Almosen sei ihre zur Schau gestellte Religiosität nicht viel wert. Letztlich geht es ihr aber um das Verzeihen einer Ungeheuerlichkeit, zu der sie niemals, und zwar unter keinen Umständen, fähig wäre. Wie solle sie ihm jemals verzeihen? Mehr und mehr kommt sie in der Therapie zur Erkenntnis, dass sie einfach einen sehr fehlerhaften Mann geheiratet habe und selber insgesamt viel weniger Fehler habe. Das erschwere jetzt natürlich das Verzeihen. Sie könne nur für ihn beten.
Da sich die therapeutische Beziehung in der Zwischenzeit als stabil erwiesen hat, erlaubt sich der Psychiater eine konfrontative Intervention. Er freue sich, sagt er mit freundlichem Lächeln, dass er die Ehre habe, vor der unbefleckten Empfängnis zu sitzen. Sie schaut den Therapeuten zuerst fassungslos an – und beginnt dann herzhaft zu lachen. Der Groll löst sich in der Folge auf, weil sie aus ihrer Rolle der vermeintlichen Fehlerlosigkeit erlöst ist.
ANALYSE: Die Dame erfüllt alle Kriterien für einen zwanghaften Perfektionismus. Humor schafft hier Selbstdistanz. Mit der dadurch gewonnenen Selbsterkenntnis ist dann das Verzeihen leichter möglich.
Da der Perfektionist meint, keine wirklich gravierenden Fehler zu haben, muss er sich folgerichtig auch nicht bessern. Warum auch? Jedes Bemühen wäre ja das Zugeständnis der eigenen Fehlerhaftigkeit. Ein Patient, der wegen Eheproblemen in Therapie war und in der Selbsterkenntnis große Fortschritte machte, sagte eines Tages: »Meine Frau darf aber nichts davon merken, dass ich an mir arbeite. Das wäre mir sehr peinlich.« Mit einem Perfektionisten verheiratet zu sein ist oft mühsam: Die haben nämlich immer recht. Und wenn sie zufällig einmal nicht recht hatten, dann hat das einen ganz genauen Grund, der dann recht umständlich erklärt wird. Ein kurzes »Du hattest recht, ich habe mich geirrt« ist ihnen unmöglich zu entlocken.
Der Perfektionist sucht meist die Bestätigung, dass er ohnehin alles richtig macht. Für den Therapeuten ist das in der Paartherapie oft eine große Herausforderung. Anfällig zu sein für Fehler, wie wir Menschen nun einmal sind, ist für den Perfektionisten bedrohlich. Damit ist für ihn aber jede Normgebung schon eine Infragestellung seiner selbst und wird letztlich als existenzielle Bedrohung erlebt. Aus diesem Grund reagiert der Neurotiker viel aggressiver auf externe Normgebung, als es die Umstände nahelegen.
Es wird niemand bezweifeln, dass es eine der Aufgaben der Religion ist, die moralische Latte hoch zu legen und ein »Soll« vorzugeben, an dem man sich ein Leben lang zu messen hat. Nebenbei bemerkt ist das nicht die Hauptaufgabe der Religion – Moral ist ein Nebenschauplatz. In allen Religionen gibt es wegen dieser anspruchsvollen Zielvorgaben Gläubige, die sich nicht an die Regeln ihrer eigenen Glaubensgemeinschaft halten wollen, denen also die Trauben zu hoch hängen. Das ist nicht überraschend, sehr menschlich, völlig normal und deshalb weit verbreitet. Die meisten integrieren die Spannung zwischen »Soll« und »Ist« auch gut in ihr Selbstbild und können die Diskrepanz vor sich selbst und den anderen freimütig als Defizit zugeben. Perfektionisten hingegen ertragen diese Spannung nicht und müssen in ihrer ängstlichen Zwanghaftigkeit stattdessen die Regeln geändert haben. Denn sie wollen sich zwar nicht ändern, können aber durch ihre
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