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Selbs Justiz

Selbs Justiz

Titel: Selbs Justiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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Im Jahre 1872, sieben Jahre nach der Badischen Anilin- & Soda-Fabrik, wurden sie von den Chemikern Professor Demel und Kommerzienrat Entzen gegründet. Seitdem wächst das Werk und wächst und wächst. Heute nimmt es ein Drittel der bebauten Fläche Ludwigshafens ein und beschäftigt fast hunderttausend Arbeitnehmer. Zusammen mit dem Wind bestimmen die Produktionsrhythmen der RCW , ob und wo es in der Region nach Chlor, Schwefel oder Ammoniak riecht.
    Das Kasino liegt außerhalb des Werkgeländes und hat seinen eigenen feinen Ruf. Neben dem großen Restaurant für das mittlere Management gibt es für die Direktoren einen eigenen Bereich mit mehreren Salons, die in den Farben gehalten sind, mit deren Synthese Demel und Entzen ihre ersten Erfolge errungen haben. Und eine Bar.
    Da stand ich um eins noch. Man hatte mir schon am Empfang gesagt, daß der Herr Generaldirektor sich leider etwas verspäten würde. Ich bestellte den zweiten Aviateur.
    »Campari, Grapefruitsaft, Champagner, je ein Drittel« – das rothaarige und sommersprossige Mädchen, das heute hinter der Bar aushalf, freute sich, etwas gelernt zu haben.
    »Sie machen das wunderbar«, sagte ich. Sie sah mich mitfühlend an. »Sie müssen auf Herrn Generaldirektor warten?«
    Ich hatte schon schlechter gewartet, in Autos, Hauseingängen, Korridoren, Hotel- und Bahnhofshallen. Hier stand ich unter vergoldetem Stuck und einer Galerie von Ölportraits, unter denen eines Tages auch Kortens hängen würde.
    »Mein lieber Selb«, kam er auf mich zu. Klein und drahtig, mit wachsamen blauen Augen, bürstig gestutztem grauen Haar und der ledernen braunen Haut, die von zuviel Sport in der Sonne kommt. Mit Richard von Weizsäcker, Yul Brynner und Herbert von Karajan in einer Combo könnte er aus dem geswingten Badenweiler Marsch einen Welthit machen.
    »Tut mir leid, daß ich zu spät komme. Dir bekommt’s noch, das Rauchen und das Trinken?« Er warf einen zweifelnden Blick auf mein Päckchen Sweet Afton. »Bringen Sie mir ein Apollinaris! – Wie geht es dir?«
    »Gut. Ich mache ein bißchen langsamer, darf ich wohl auch mit meinen achtundsechzig, nehme nicht mehr jeden Auftrag an, und in ein paar Wochen fahre ich in die Ägäis zum Segeln. Und du gibst das Ruder noch nicht aus den Händen?«
    »Ich würde gerne. Aber ein, zwei Jahre dauert es noch, bis ein anderer mich ersetzen kann. Wir stecken in einer schwierigen Phase.«
    »Muß ich verkaufen?« Ich dachte an meine zehn RCW -Aktien im Depot der Badischen Beamtenbank.
    »Nein, mein lieber Selb«, lachte er. »Letztlich sind die schwierigen Phasen für uns stets ein Segen. Aber es gibt trotzdem Dinge, die uns Sorgen machen, lang- und kurzfristig. Wegen eines kurzfristigen Problems wollte ich dich heute sehen und nachher mit Firner zusammenbringen. Du erinnerst dich an ihn?«
    Ich erinnerte mich gut. Vor ein paar Jahren war Firner Direktor geworden, aber für mich blieb er Kortens alerter Assistent. »Trägt er noch die Harvard-Business-School-Krawatte?«
    Korten antwortete nicht. Er schaute nachdenklich, als überlege er die Einführung der firmeneigenen Krawatte. Er nahm meinen Arm. »Laß uns in den Blauen Salon gehen, es ist angerichtet.«
    Der Blaue Salon ist das Beste, was die RCW ihren Gästen bieten. Ein Jugendstilzimmer mit Tisch und Stühlen von van de Velde, einer Lampe von Mackintosh und an der Wand einer Industrielandschaft von Kokoschka. Es waren zwei Gedecke aufgelegt, und als wir uns setzten, brachte der Kellner einen Rohkostsalat.
    »Ich bleibe bei meinem Apollinaris. Für dich habe ich einen Château de Sannes bestellt, du magst ihn doch. Und nach dem Salat einen Tafelspitz?«
    Mein Lieblingsgericht. Wie nett von Korten, daran zu denken. Das Fleisch war zart, die Meerrettichsoße ohne lästige Mehlschwitze, dafür mit reichlich Sahne. Für Korten war der Lunch mit dem Rohkostsalat zu Ende. Während ich aß, kam er zur Sache.
    »Ich werde mich mit Computern nicht mehr befreunden. Wenn ich die jungen Leute anschaue, die man uns heute von der Universität schickt, die keine Verantwortung tragen und keine Entscheidungen treffen können, sondern immer das Orakel befragen müssen, dann denke ich an das Gedicht vom Zauberlehrling. Fast hat es mich gefreut, als man mir vom Ärger mit der Anlage erzählt hat. Wir haben eines der besten Management- und Betriebsinformationssysteme der Welt. Ich weiß zwar nicht, wer das wissen will, aber du kannst am Terminal erfahren, daß wir heute im Blauen Salon

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