Selbs Justiz
Blick. »Workuta. 1945 kam ich mit achtzehn in russische Gefangenschaft, 1953 zurück. Ohne den Alten aus Rhöndorf wär ich jetzt noch dort. Aber zu Ihrer Frage. In der Tat liegen uns über einige Verdächtige auch Erkenntnisse vor, die wir nicht in den Bericht nehmen wollten. Es gibt ein paar Politische, über die uns der Verfassungsschutz im Wege der Amtshilfe auf dem laufenden hält. Und ein paar mit Schwierigkeiten im Privatleben, Frauen, Schulden und so.«
Er nannte mir elf Namen. Als wir die durchgingen, merkte ich rasch, daß bei den sogenannten Politischen nur die üblichen Lappalien anlagen: im Studium ein falsches Flugblatt unterzeichnet, für eine falsche Gruppe kandidiert, auf der falschen Demo marschiert. Interessant war mir, daß auch Frau Buchendorff dabei war. Zusammen mit anderen Frauen hatte sie sich mit Handschellen am Zaun vor dem Haus des Familienministers angekettet.
»Worum ging es denn damals?« fragte ich Danckelmann.
»Das hat uns der Verfassungsschutz nicht mitgeteilt. Nach der Scheidung von ihrem Mann, der sie wohl in solche Sachen hineingetrieben hat, ist sie nie mehr auffällig geworden. Aber ich sage immer, wer einmal politisch war, bei dem kann’s von heute auf morgen wieder losgehen.«
Der Interessanteste fand sich auf der Liste der ›Lebensversager‹, wie Danckelmann sie nannte. Ein Chemiker, Franz Schneider, Mitte Vierzig, mehrfach geschieden und leidenschaftlicher Spieler. Man war auf ihn aufmerksam geworden, weil er beim Lohnbüro zu oft um Abschläge gebeten hatte.
»Wie sind Sie auf ihn gekommen?« fragte ich.
»Das ist Standardprozedur. Sobald einer das dritte Mal Vorschuß verlangt, sehen wir ihn uns an.«
»Und was genau heißt das?«
»Das kann, wie in diesem Fall, bis zum Beschatten gehen. Wenn Sie wollen, können Sie mit Herrn Schmalz reden, der das damals gemacht hat.«
Ich ließ Schmalz ausrichten, daß ich ihn um zwölf Uhr zum Lunch im Kasino erwartete. Ich wollte noch sagen, daß ich vor dem Eingang am Ahorn auf ihn warten würde, aber Danckelmann winkte ab. »Lassen Sie mal, Schmalz ist einer unserer Besten. Der findet Sie schon.«
»Auf gute Zusammenarbeit«, sagte Thomas. »Sie nehmen mir nicht übel, daß ich ein bißchen empfindlich bin, wenn uns Sicherheitskompetenzen entzogen werden. Und Sie kommen von außen. Aber ich habe mich über das angenehme Gespräch gefreut, und«, er lachte entwaffnend, »unsere Erkenntnisse über Sie sind ausgezeichnet.«
Beim Verlassen des Backsteingebäudes, in dem der Werkschutz untergebracht war, verlor ich die Orientierung. Vielleicht hatte ich die falsche Treppe genommen. Ich stand in einem Hof, an dessen Längsseiten Einsatzfahrzeuge des Werkschutzes geparkt waren, blau lackiert, mit dem Firmenlogo auf den Türen, dem silbernen Benzolring und darin den Buchstaben RCW . Der Eingang an der Stirnseite war als Portal gestaltet, mit zwei Sandsteinsäulen und vier Sandsteinmedaillons, aus denen mich geschwärzt und traurig Aristoteles, Schwarz, Mendelejew und Kekulé ansahen. Anscheinend stand ich vor dem alten Hauptverwaltungsgebäude. Ich verließ den Hof und kam in einen weiteren, dessen Fassaden ganz von russischem Wein überwachsen waren. Es war seltsam still, meine Schritte auf dem Kopfsteinpflaster hallten überlaut. Die Häuser schienen unbenutzt. Als mich etwas im Rücken traf, fuhr ich erschreckt herum. Vor mir doppste ein schreiend bunter Ball, und ein kleiner Junge kam gerannt. Ich nahm den Ball auf und ging dem Jungen entgegen. Jetzt sah ich in der Ecke des Hofs hinter einem Rosenstrauch die Fenster mit Gardinen und das Fahrrad neben der offenen Tür. Der Junge nahm mir den Ball aus der Hand, sagte »Danke« und rannte ins Haus. Auf dem Türschild erkannte ich den Namen Schmalz. Eine ältere Frau sah mich mißtrauisch an und schloß die Tür. Es war wieder ganz still.
6
Ragoût fin im Ring mit Grünem
Als ich das Kasino betrat, sprach mich ein kleiner, dünner, blasser, schwarzhaariger Mann an. »Herr Selb?« lispelte er, »Schmalz der Name.«
Meine Einladung, einen Aperitif zu nehmen, lehnte er ab. »Danke, ich trinke keinen Alkohol.«
»Und wie wär’s mit einem Fruchtsaft?« Ich wollte auf meinen Aviateur nicht verzichten.
»Um ein Uhr geht die Arbeit weiter, möchte doch darum bitten, gleich … kann Ihnen eh nicht viel berichten.«
Die Antwort war elliptisch, aber ohne Zischlaute. Hatte er gelernt, Wörter mit s und z aus seinem Sprachschatz zu tilgen?
Die Dame am Empfang klingelte nach einer
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