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Selbs Justiz

Selbs Justiz

Titel: Selbs Justiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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ne hübsche Geschichte war, und meine Jugend gibt nicht viele Geschichten her. Und was meine Zukunft als Ballettänzer angeht … Na hören Sie mal. Sie machen mir keinen besonders zukunftsträchtigen Eindruck mehr, aber Sie würden sich doch deswegen keine Gliedmaßen brechen.«
    »Sagen Sie, Herr Mencke, wie wollten Sie die Tanzschule, von der Sie so oft geredet haben, finanzieren?«
    »Frederik wollte mich unterstützen, Fritz Kirchenberg, meine ich. Er hat eine Menge Geld. Wenn ich die Versicherung hätte betrügen wollen, hätte ich mir doch was Schlaueres einfallen lassen können.«
    »Die Autotür ist gar nicht so dumm. Aber was wäre denn noch schlauer gewesen?«
    »Da hab ich keine Lust, mit Ihnen drüber zu reden. Ich hab ja auch nur gesagt, wenn ich die Versicherung hätte betrügen wollen.«
    »Wären Sie bereit, sich psychiatrisch begutachten zu lassen? Das würde der Versicherung die Entscheidung erheblich erleichtern.«
    »Kein Gedanke. Ich laß mich nicht auch noch für verrückt verkaufen. Wenn die nicht sofort zahlen, geh ich zum Anwalt.«
    »Im Prozeß werden Sie um die psychiatrische Begutachtung nicht herumkommen.«
    »Das wollen wir doch erst mal sehen.«
    Die Krankenschwester kam rein und brachte ein kleines Schälchen mit bunten Tabletten. »Die beiden roten jetzt, die gelbe vor, die blaue nach dem Essen. Wie geht’s uns denn heute?«
    Sergej hatte Tränen in den Augen, als er die Schwester ansah. »Ich kann nicht mehr, Katrin. Immer Schmerzen und nie mehr tanzen. Und jetzt will mich dieser Herr von der Versicherung zum Betrüger machen.«
    Schwester Katrin legte ihm die Hand auf die Stirn und sah mich böse an. »Sehen Sie nicht, wie Sergej leidet? Haben Sie kein Schamgefühl? Lassen Sie ihn doch in Ruhe. Es ist immer dasselbe mit den Versicherungen; erst ziehen sie einem das Geld aus der Nase, und dann quälen sie, weil sie nicht zahlen wollen.«
    Ich konnte diese Konversation nicht mehr bereichern und flüchtete. Beim Essen notierte ich Stichworte für meinen Bericht an die Vereinigten Heidelberger Versicherungen.
    Mein Fazit war weder die gezielte Selbstverstümmelung noch das bloße Mißgeschick. Ich konnte nur die Gesichtspunkte zusammenstellen, die für das eine und das andere sprachen. Falls die Versicherung nicht zahlen wollte, würde sie damit im Prozeß keinen schlechten Stand haben.
    Als ich die Straße überquerte, spritzte mich ein Auto von unten bis oben mit Schneematsch voll. Ich war schon schlecht gelaunt, als ich im Büro ankam, und die Arbeit am Bericht machte mich noch mißmutiger. Am Abend hatte ich mühsam zwei Kassetten diktiert, die ich zum Schreiben in die Tattersallstraße brachte. Auf dem Heimweg fiel mir ein, daß ich Frau Mencke noch nach den Zahnextraktionsmethoden des kleinen Siegfried hatte fragen wollen. Aber das war mich jetzt ooch Pomade.

14
Matthäus 6, Vers 26
    Es war eine kleine Trauergemeinde, die sich am Freitag um 14 Uhr auf dem Ludwigshafener Hauptfriedhof einfand. Eberhard, Philipp, der Prodekan der Naturwissenschaftlichen Fakultät Heidelberg, Willys Putzfrau und ich. Der Prodekan hatte eine Rede vorbereitet, die er wegen des geringen Publikums nur unwillig vortrug. Wir erfuhren, daß Willy auf dem Gebiet der Käuzchenforschung eine international anerkannte Autorität gewesen war. Und das mit Herz; im Krieg hatte er, damals Privatdozent in Hamburg, aus der brennenden Voliere des Tierparks Hagenbeck die völlig verstörte Käuzchenfamilie geborgen. Der Pfarrer sprach über Matthäus 6, Vers 26, über die Vögel unter dem Himmel. Unter blauem Himmel und knirschendem Schnee ging es von der Kapelle zum Grab. Philipp und ich folgten dem Sarg als erste. Er flüsterte mir zu: »Ich muß dir mal das Photo zeigen. Ich hab’s beim Aufräumen gefunden. Willy und die geretteten Käuzchen, mit versengtem Haupthaar beziehungsweise Gefieder, sechs Augenpaare schauen erschöpft, aber glücklich in die Kamera. Mir wurde ganz warm und weh ums Herz.«
    Dann standen wir um die tiefe Grube. Es ist wie ein Auszählreim. Altersmäßig ist als nächster Eberhard und dann bin ich dran. Wenn jemand stirbt, der mir lieb ist, denke ich schon lange nicht mehr: »Ach hätte ich doch mehr und öfter …« Und wenn ein Altersgenosse stirbt, ist mir, als sei er eben schon vorgegangen, auch wenn ich nicht sagen kann, wohin. Der Pfarrer betete das Vaterunser, und wir fielen alle ein, selbst Philipp, der hartgesottenste Atheist, den ich kenne, sprach laut mit. Dann warf jeder von

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