Selbs Justiz
in ss-Uniform mit Kortens Gesicht uns die Bälle zuwirft, meine Vernehmung von Weinstein, und immer wieder lachte mich Korten an und sagte: »Selb, das Seelchen, das Seelchen, das Seelchen …«
Um fünf machte ich mir einen Kamillentee und versuchte zu lesen, aber meine Gedanken mochten sich nicht beruhigen. Sie kreisten weiter. Wie hatte Korten das tun können, warum hatte ich mich so blind von ihm mißbrauchen lassen, was sollte jetzt passieren? Hatte Korten Angst? Schuldete ich irgend jemand irgendwas?
Gab es jemand, dem ich alles erzählen konnte? Nägelsbach? Tyberg? Judith? Sollte ich an die Presse gehen?
Was machte ich mit meiner Schuld?
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Lange Zeit drehten sich die Gedanken im Kreise, schneller und schneller. Als ihre Geschwindigkeit wahn-witzig wurde, stoben sie auseinander und ordneten sich zu einem völlig neuen Bild. Ich wußte, was ich zu tun hatte.
Um neun Uhr rief ich Frau Schlemihl an. Korten war am Wochenende in die Ferien gefahren, in sein Haus in der Bretagne, wo er und seine Frau jedes Jahr Weihnachten verbringen. Ich fand noch die Karte, die er mir letztes Jahr zu Weihnachten geschickt hatte. Sie zeigte ein stattliches Anwesen aus grauem Stein mit schiefer-nem Dach und roten Fensterläden, deren Querbalken ein umgedrehtes Z bildeten. Daneben stand ein hohes Windrad, dahinter erstreckte sich das Meer. Ich schlug im Fahrplan nach und fand einen Zug, mit dem ich gegen fünf Uhr nachmittags in Paris-Est ankommen wür-de. Ich mußte mich beeilen. Ich machte Turbos Klo frisch, schüttete ihm reichlich Trockenfutter in den Napf und packte die Reisetasche. Ich lief zum Bahnhof, wechselte Geld und löste eine Fahrkarte 2. Klasse. Der Zug war voll. Im Kurswagen fand ich keinen Platz mehr und mußte daher in Saarbrücken umsteigen. Auch danach war es voll. Lärmende Soldaten, die über Weihnachten nach Hause durften, Studenten, späte Geschäftsleute.
Der Schnee der letzten Wochen war völlig weggetaut, schmutzig grünbraunes Land flog am Zug vorbei. Der Himmel war grau, manchmal wurde die Sonne als fahle Scheibe hinter den Wolken sichtbar. Ich überlegte, warum Korten Mischkeys Enthüllungen gefürchtet hatte.
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Strafrechtlich war ihm wohl Mord an Dohmke vorzu-werfen, unverjährt und unverjährbar. Und auch wenn er mangels Beweis freigesprochen würde, wären seine bürgerliche Existenz und sein Mythos zerstört.
In der Gare de l’Est war eine Autovermietung, und ich nahm einen dieser Mittelklassewagen, der bei der einen Marke so aussieht wie bei der anderen. Ich ließ das Auto noch beim Verleih und ging hinaus in die abendliche, hektisch pulsierende Stadt. Vor dem Bahnhof stand ein riesiger Weihnachtsbaum, der so viel weihnachtliche Stimmung verbreitete wie der Eiffelturm. Es war halb sechs, ich hatte Hunger. Die meisten Restaurants waren noch geschlossen. Ich fand eine Brasserie, die mir gefiel und in der es rund um die Uhr hoch herging. Ich wurde vom Oberkellner an ein kleines Tischchen gesetzt und fand mich in einer Reihe mit fünf anderen unzeitgemäß frühen Essern. Alle aßen Sauerkraut mit Wellfleisch und Würstchen, und ich wählte dasselbe. Dazu eine halbe Flasche Elsässer Riesling. Im Handumdrehen standen dampfender Teller, ei-ne Flasche im beschlagenen Kühler und ein Korb mit Weißbrot vor mir. Wenn mir danach ist, mag ich die Atmosphäre von Brasserien, Bierkellern und Pubs gerne. Heute nicht. Ich war schnell fertig. Im nächsten Hotel nahm ich mir ein Zimmer und bat, mich in vier Stunden zu wecken.
Ich schlief wie ein Stein. Als ich vom Klingeln des Telephons aufwachte, wußte ich zunächst nicht, wo ich war. Ich hatte die Läden nicht geöffnet, und nur verhalten drang der Lärm vom Boulevard herauf in mein 340
Zimmer. Ich duschte, putzte die Zähne, rasierte mich und zahlte. Auf dem Weg zur Gare de l’Est trank ich einen doppelten Espresso. Fünf weitere ließ ich mir in die Thermosflasche einfüllen. Meine Sweet Afton gingen zu Ende. Ich kaufte wieder eine Stange Chesterfield.
Für die Fahrt nach Trefeuntec hatte ich sechs Stunden veranschlagt. Aber eine Stunde war vergangen, bis ich aus Paris und auf der Autobahn nach Rennes war. Es gab wenig Verkehr, die Fahrt war eintönig. Erst jetzt fiel mir auf, wie mild es war. Weihnachten im Klee, Ostern im Schnee. Ab und zu passierte ich eine Maut-station und wußte nie, ob ich jetzt zahlen oder eine Karte in Empfang nehmen mußte. Einmal fuhr ich zum Tanken raus und wunderte mich über den Benzinpreis.
Die Lichter der
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