Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)
kann man wählen. Aber dann sollte man auch dazu stehen und es vertreten, dass man sein Leben auf Kosten des Lebens anderer lebt.
Das wäre die eine Variante. Zeichnung: Mick Stevens für The New Yorker. [197]
Oder man wählt die andere Variante. Und geht die Wette ein, dass es anders geht. Dass eine Gemeinwohlökonomie vom Überlebensstandpunkt her die überlegene Wirtschaftsform ist, und die Lebensqualität in der nachhaltigen Moderne höher ist als im Universum der Konsum-Gulags der expansiven Moderne. Eine reduktive Kultur würde in fast jeder Hinsicht andere Parameter für Orientierungen, Entscheidungen und Handlungen setzen als die expansive: Statt »Wachstum« wäre für sie »Kultivierung« handlungsleitend, statt »Effizienz« »Achtsamkeit«. Gegen »Schnelligkeit« stünde »Genauigkeit«, gegen »ALLES IMMER« »Saison«, gegen »Fremdversorgung« »Resilienz« und gegen »Konsum«: Glück .
Die neuen Kategorien werden von einer wünschbaren Zukunft her gedacht, die alten vom Status quo. Denken von der Zukunft her öffnet neue Möglichkeiten, das Denken vom Status quo her schränkt sie systematisch ein auf das, was man schon kennt. Genau so entsteht das Vermögen zum Widerstand: die besseren Möglichkeiten der Zukunft gegen die schlechteren der Gegenwart durchzusetzen. Ob man das will, hängt davon ab, ob man selbst Verantwortung zu übernehmen bereit ist für die Zukunft. Oder nicht. Da sind wir dort, wo Hans Jonas den Menschen als moralisches Wesen definiert: Er kann sich zwischen moralischem und unmoralischem Verhalten entscheiden.
Das legt die Entscheidung in Ihre Hände. Was wir nach vierzig Jahren Ökobewegung und zwanzig Jahren Postdemokratie ganz sicher nicht mehr brauchen, sind Appelle und Belehrungen. Werte verändern nicht die Praxis, es ist eine veränderte Praxis, die Werte verändert. Ich habe vor einiger Zeit meinen Job gewechselt, weil ich es überflüssig fand, noch mehr Daten über den Zustand der Welt zu sammeln, wo doch das vorhandene Wissen längst für die Schlussfolgerung reicht, dass es so nicht weitergeht. Mein persönlicher Handlungsspielraum lässt es zu, auf das Exoskelett eines Forschungsinstituts zu verzichten und zu versuchen, mit dem Erzählen von Geschichten des Gelingens an der Komposition einer Gegengeschichte zum Bestehenden zu arbeiten. Aber seit ich den Entschluss zu dieser Auslegung meines Handlungsspielraums gefasst habe, hat er sich in erstaunlicher Geschwindigkeit erweitert – zu neuen Gesprächen, Kooperationen, Schlachtplänen, mit Menschen und Institutionen, mit denen ich zuvor gar nicht in Kontakt gekommen wäre. Die Öffnung zu solchen Bündnismöglichkeiten war auch deshalb leicht, weil ich meine Zeit nicht mehr damit verschwende, mein Denken den Regeln von Wissenschaftsadministratoren folgen zu lassen, die es in wenigen Jahrzehnten geschafft haben, Wissenschaft nach Kriterien zu definieren, die mehr mit dem täglichen Hühnerausstoß einer Großmastanlage zu tun haben als mit dem Lernen von Denken. Also: Das Nutzen des eigenen Handlungsspielraums kostet nicht viel, aber es macht viel Freude.
»Intelligenz ist eine moralische Kategorie.« Mit diesem überraschenden Satz beginnt Theodor W. Adorno den 127. Aphorismus der »Minima Moralia«. Und genauso überraschend geht es weiter: Intelligenz, als »Kraft des Urteils« setze die Aufhebung des Gegensatzes von Verstand und Gefühl voraus. Das antithetische Denken, das sich im Widerstand zum Gegebenen entwirft, basiere auf dem Wünschen, also der aufgehobenen Einheit von Verstand und Gefühl. Die Urteilskraft der moralischen Intelligenz ist mithin die Voraussetzung für Selbstaufklärung und Aufklärung. Selbst-Denken ist also nur als emotionales Vermögen vorstellbar. (Das ist jetzt nicht mehr Adorno, das bin ich selbst.)
Die bloße Analyse falscher Entwicklungen und Verhältnisse bedeutet ja an sich nichts; moralische Intelligenz möchte sie aber verändern. Das tägliche rituelle Aufzählen von schmelzenden Eisschilden und der wachsenden Häufigkeit von Hurrikanen bedeutet an sich nichts: Moralische Intelligenz möchte etwas dagegen in Gang setzen. Empörung an sich bedeutet nichts: Moralische Intelligenz sucht nach Möglichkeiten, das Empörende zu bekämpfen. In diesem Buch war die Rede von »moralischer Ökonomie«, der es nicht um quantitativ messbare Ungleichheit, sondern um Gerechtigkeitsstandards innerhalb sozialer Beziehungen geht. Und von »moralischer Phantasie«: dem Vermögen, sich
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