Selbst ist der Mensch
nicht über den Weg, sondern über die Lösung eines Problems nachdenken, und wenn wir am Ende dennoch heil und gesund ankommen, haben wir von einer unbewussten Fähigkeit profitiert, die wir zuvor durch viele bewusste Übungen (mit einer Lernkurve) erworben haben. Auf unserem Heimweg musste unser Bewusstsein nur das Ziel des Weges im Auge behalten. Alle übrigen bewussten Prozesse standen für die kreative Nutzung zur Verfügung.
Das Gleiche gilt im Wesentlichen auch für die berufliche Tätigkeit von Musikern und Sportlern. Ihre bewusste Informationsverarbeitung konzentriert sich auf das angestrebte Ziel, auf das Erreichen bestimmter Wegmarken zu bestimmten Zeitpunkten, auf die Vermeidung mancher Gefahren bei der Ausführung und auf das Entdecken unvorhergesehener Umstände. Der Rest ist Üben, Üben, Üben – die zweite Natur, die manch einen bis auf das Konzertpodium bringt.
Und schließlich entfaltet das kooperative Wechselspiel zwischen Bewusstem und Unbewusstem seine Wirkung in vollem Umfang auch bei moralischen Verhaltensweisen. Diese stellen ebenfalls eine Fähigkeit dar, die durch wiederholtes, langjähriges Üben erworben wurde. Sie speist sich aus bewusst formulierten Prinzipien und Gründen, ist aber ansonsten im kognitiven Unbewussten ebenfalls zu einer »zweiten Natur« geworden.
Zusammenfassend kann man sagen: Was wir als bewusstes Denken oder Überlegen bezeichnen, hat wenig mit der Fähigkeit zu tun, die gerade nötigen Tätigkeiten zu steuern. Es hat aber sehr viel mit der Fähigkeit zu tun, vorauszuplanen und zu entscheiden, welche Handlungen wir ausführen wollen und welche nicht. Beim bewussten Denken geht es im Wesentlichen um Entscheidungen, die längere Zeit »reifen« müssen; das können in manchen Fällen Tage oder auch Wochen sein, und nur selten sind es weniger als einige Minuten oder Sekunden. Um Entscheidungen, die in Sekundenbruchteilen fallen, geht es dabei nicht. Einer verbreiteten Ansicht zufolge sind blitzschnelle Entscheidungen »unüberlegt« und »automatisch«. 3 Zum bewussten Denken gehört die Reflexion von Kenntnissen . Reflexion und Kenntnisse machen wir uns zunutze, wenn wir in unserem Leben wichtige Entscheidungen treffen. Bewusstes Denken setzen wir ein, wenn es um Liebe und Freundschaft geht, um Schule und Beruf, um unsere Beziehungen zu anderen. Entscheidungen, die sich auf mehr oder weniger eindeutig definiertes moralisches Verhalten beziehen, erfordern bewusstes Denken und spielen sich über längere Zeiträume hinweg ab. Und nicht nur das: Solche Entscheidungen werden auch in einem »offline« gestellten mentalen Raum verarbeitet, der gegenüber der äußeren Wahrnehmung den Vorrang hat. Das Subjekt im Mittelpunkt des bewussten Denkens, das Selbst, das für das Erstellen von Zukunftsszenarien verantwortlich ist, wird häufig von der äußeren Wahrnehmung abgelenkt und schenkt deren Unwägbarkeiten keine Aufmerksamkeit mehr. Unter dem Gesichtspunkt der Gehirnphysiologie gibt es für diese Ablenkung einen stichhaltigen Grund: Der Raum für die Verarbeitung von Bildern ist, wie wir erfahren haben, die Gesamtheit der frühen sensorischen Rindenfelder. Diesen Raum müssen sich bewusste Reflexionsvorgänge und unmittelbare Wahrnehmung teilen, und es dürfte schwierig sein, sie so zu organisieren, ohne das eine gegenüber dem anderen zu begünstigen.
Bewusstes Denken unter der Leitung eines robusten Selbst, das auf einer organisierten Autobiografie und einer definierten Identität aufbaut, sind eine wichtige Folge des Bewusstseins. Gerade solche Errungenschaften strafen die Vorstellung Lügen, Bewusstsein sei ein nutzloses Epiphänomen, eine Verzierung, ohne die das Gehirn das Lebensmanagement genauso effizient und reibungslos bewerkstelligen würde. Unsere Lebensweise in dem physikalischen und sozialen Umfeld, das zum Lebensraum der Menschen geworden ist, wäre ohne reflektierendes, bewusstes Denken nicht möglich. Es stimmt aber auch, dass die Produkte des bewussten Denkens von zahlreichen unbewussten Gegebenheiten eingeschränkt werden. Manche davon sind biologisch vorgegeben, andere wurden kulturell erworben, und die unbewusste Steuerung von Handlungen ist auch ein Thema, über das es zu diskutieren gilt.
Die meisten wichtigen Entscheidungen werden aber innerhalb des bewussten Geistes getroffen, lange vor dem Zeitpunkt ihrer Ausführung, so dass sie simuliert und überprüft werden können; auf diese Weise kann bewusste Kontrolle die Auswirkungen unbewusster
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