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Selbst ist der Mensch

Selbst ist der Mensch

Titel: Selbst ist der Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Damasio
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darstellt.
    Die gerade beschriebene nichtbewusste Einstellung besitzt jede Zelle unseres Körpers. Wäre es denkbar, dass unser sehr menschlicher, bewusster Wunsch zu leben oder unser Wille, die Oberhand zu behalten, als Summe des unbewussten Willens aller Zellen in unserem Körper ihren Anfang nahmen, als kollektive Stimme, die sich zu einem Lied der Bestärkung, der Bestätigung erhob?
     
    Die Vorstellung von einem großen Kollektiv einzelner Willen, das mit einer einzigen Stimme spricht, ist nicht nur poetische Fantasie. Sie passt zur Realität unseres Organismus, in dem tatsächlich eine einzelne Stimme in Form des Selbst in einem bewussten Gehirn existiert. Aber wie findet man den Übergang vom hirnlosen, geistlosen Willen der einzelnen Zellen und ihrer Kollektive zum Selbst des bewussten Geistes, das seinen Ursprung in einem Gehirn hat? Dazu müssen wir in unseren Bericht einen radikalen Teilnehmer einführen, der die Spielregeln verändert: die Nervenzelle, das Neuron.
    Neuronen sind, soweit man es feststellen kann, einzigartige Zellen, die keiner anderen Zelle im Körper gleichen, ja nicht einmal den anderen Gehirnzellen, beispielsweise den Gliazellen. Was macht unsere Neuronen zu etwas so Besonderem? Haben nicht auch sie einen Zellkörper, und sind nicht auch sie mit einem Zellkern, Cytoplasma und einer Membran ausgestattet? Ordnen sie nicht, wie andere Zellen, die Moleküle in ihrem Inneren immer wieder neu? Passen nicht auch sie sich an ihre Umwelt an? Ja, das alles stimmt. Neuronen sind durch und durch Körperzellen, und doch sind sie etwas Besonderes.
    Um zu erklären, warum das so ist, sollten wir einen funktionellen und einen strategischen Unterschied betrachten. Der entscheidende funktionelle Unterschied hat mit der Fähigkeit der Neuronen zu tun, elektrochemische Signale zu erzeugen und auf diesem Weg den Zustand anderer Zellen zu verändern. Neuronen haben die elektrischen Signale nicht erfunden. Auch Einzeller wie das Pantoffeltierchen können sie erzeugen und nutzen sie zur Steuerung ihres Verhaltens. Neuronen jedoch beeinflussen mithilfe ihrer Signale weitere Zellen: andere Neuronen, endokrine Zellen (die daraufhin Moleküle abgeben) und die Zellen der Muskelfasern. Eine solche Zustandsveränderung von Zellen ist die Ursache der Aktivität, die überhaupt erst »Verhalten« darstellt und steuert, und damit trägt sie auch zur Entstehung des Geistes bei. Neuronen sind zu dieser Leistung in der Lage, weil sie einen elektrischen Strom erzeugen und diesen an ihrem röhrenförmigen, als Axon bezeichneten Fortsatz entlangleiten. Diese Übertragung erfolgt manchmal über Entfernungen, die man mit bloßem Auge sehen kann, beispielsweise wenn Signale über viele Zentimeter hinweg von den Axonen der Neuronen im motorischen Cortex zum Hirnstamm laufen oder wenn sie sich vom Rückenmark bis zum Ende einer Extremität fortpflanzen. Kommt der elektrische Strom an der Synapse – der Spitze des Axons – an, sorgt er dort für die Ausschüttung von Transmittermolekülen, die ihrerseits auf die nächste Zelle in der Kette einwirken. Handelt es sich bei dieser zweiten Zelle um eine Muskelfaser, ist eine Bewegung die Folge. 4
    Warum sich die Neuronen so verhalten, ist heute kein Geheimnis mehr. Wie andere Körperzellen, so tragen auch sie auf der Innen- und der Außenseite ihrer Membranen elektrische Ladungen. Diese entstehen, weil Ionen wie Natrium oder Kalium auf den beiden Seiten der Membran in unterschiedlicher Konzentration vorhanden sind. Doch Neuronen machen sich die großen Ladungsunterschiede zwischen innen und außen zunutze, ein Zustand, den man Polarisierung nennt. Verringert sich dieser Unterschied an einer bestimmten Stelle in der Zelle stark, wird diese lokal depolarisiert, und die Depolarisierung pflanzt sich am Axon entlang fort wie eine Welle. Diese Welle ist der elektrische Impuls. Werden Neuronen depolarisiert, sagt man, sie sind »eingeschaltet« oder sie »feuern«. Kurz, Neuronen gleichen allen anderen Zellen, nur können sie Signale an andere Zellen senden, die diese beeinflussen und ihr Verhalten abwandeln.
    Der zuvor beschriebene Funktionsunterschied ist die Ursache für einen wichtigen strategischen Unterschied: Neuronen existieren zum Nutzen aller anderen Zellen des Organismus . Für die grundlegenden Lebensprozesse sind sie nicht notwendig – das zeigen alle Lebewesen, die keine Neuronen besitzen. In komplizierten, aus vielen Zellen bestehenden Organismen jedoch unterstützen die

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