Selbst ist der Mensch
übersieht.
Zwischen Neuronen und anderen Körperzellen muss man noch einen weiteren Unterschied machen. Nach allem, was wir wissen, pflanzen sich Neuronen nicht fort – das heißt, sie teilen sich nicht. Außerdem regenerieren sie sich auch nicht, zumindest nicht in nennenswertem Umfang. Praktisch alle anderen Zellen im Körper tun das, Ausnahmen sind die Zellen in den Augenlinsen und die Muskelfaserzellen des Herzens. Wenn sich diese Zellen teilen würden, wäre das nicht gut. Zellteilungen in der Augenlinse würden wahrscheinlich die Durchsichtigkeit des Mediums beeinträchtigen. Würden sich die Zellen im Herzen teilen (selbst wenn das jeweils nur in einem Abschnitt geschehen würde, wie etwa beim sorgfältig geplanten Umbau eines Hauses), käme es zu schwerwiegenden Beeinträchtigungen der Pumpfunktion, ganz ähnlich wie bei einem Herzinfarkt, bei dem ein Abschnitt des Herzens seine Funktion verliert und die fein abgestimmte Koordination der vier Herzkammern durcheinandergerät. Wie steht es in dieser Hinsicht mit dem Gehirn? Wie die Neuronenschaltkreise Erinnerungen speichern, ist zwar bis heute nicht vollständig geklärt, beim Teilen von Neuronen würden aber vermutlich die Aufzeichnungen der lebenslangen Erfahrungen zerstört, die (durch Lernen) in den Impulsmustern feuernder Neuronen in komplexen Schaltkreisen festgeschrieben sind. Aus dem gleichen Grund würden Neuronenzellteilungen auch das hoch entwickelte, in die Schaltkreise eingeschriebene Knowhow zerstören, das vom Genom von Anbeginn an festgelegt ist und das dem Gehirn mitteilt, wie es die Lebenstätigkeiten koordinieren soll. Eine Teilung von Neuronen könnte das Ende der artspezifischen Lebenssteuerung bedeuten und würde vermutlich verhindern, dass sich mental und im Verhalten eine Individualität entwickelt, ganz zu schweigen von Identität und Persönlichkeit. Dass ein solch düsteres Szenario plausibel ist, sieht man an den Folgen von Schäden in bestimmten Neuronenschaltkreisen, wie sie durch einen Schlaganfall oder die Alzheimer-Krankheit verursacht werden.
Die Teilung der meisten anderen Zellen in unserem Körper unterliegt einer strikten Regulation, damit die Struktur der verschiedenen Organe und der Aufbau des gesamten Organismus nicht beeinträchtigt werden. Es gibt einen Bauplan, der beibehalten werden muss. Während des gesamten Lebens findet eine ständige Renovierung statt, aber kaum echter Umbau. Nein, wir reißen im Haus unseres Körpers keine Wände ein. Wir bauen weder eine neue Küche an noch einen Gästeflügel. Die Renovierung ist sehr subtil und äußerst genau. Während des größten Teils unseres Lebens werden die Zellen so perfekt ersetzt, dass selbst unser äußeres Erscheinungsbild gleich bleibt. Betrachtet man aber die Auswirkungen der Alterung im Verhältnis zum äußeren Aussehen unseres Organismus oder zur Tätigkeit der inneren Organsysteme, so erkennt man, dass der Ersatz nach und nach immer weniger perfekt ist. Jetzt bleibt nicht mehr alles an seinem Ort. Die Gesichtshaut altert, Muskeln werden schlaff, die Schwerkraft macht sich bemerkbar, Organe funktionieren nicht mehr ganz so gut. An dieser Stelle kommen meist Besuche in teuren Privatpraxen und/oder plastische Chirurgie ins Spiel.
Am Leben bleiben
Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit eine Zelle am Leben bleibt? Einfach gesagt, sind dafür eine gute Haushaltsführung und gute äußere Beziehungen erforderlich, das heißt ein gutes Management der unzähligen Probleme, die sich im Leben stellen. Leben erfordert in einer einzelnen Zelle ebenso wie in großen Lebewesen aus Billionen solcher Bausteine, dass geeignete Nährstoffe in Energie umgewandelt werden, und das wiederum setzt die Fähigkeit zur Lösung mehrerer Probleme voraus: Man muss die energiereichen Produkte finden, in den Körper aufnehmen, in die universelle Energiewährung namens ATP umtauschen, Abfallstoffe entsorgen und die Energie für alles nutzen, was der Körper braucht, um den gleichen Ablauf mit Finden der richtigen Nahrung, Aufnahme und so weiter fortzusetzen. Die Nahrung zu beschaffen, aufzunehmen, zu verdauen und in Treibstoff für den Körper umzuwandeln – das sind die Aufgaben einer einfachen, kleinen Zelle.
Für das Lebensmanagement sind solche Mechanismen so wichtig, weil es so schwierig ist. Leben ist ein höchst sensibler Zustand und nur dann möglich, wenn im Körperinneren zahlreiche Bedingungen gleichzeitig erfüllt sind. In Organismen wie dem unseren
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