Selbst ist der Mensch
dürfen beispielsweise die Sauerstoff-und die CO 2 - Mengen nur innerhalb sehr enger Grenzen schwanken, das Gleiche gilt für den Säuregehalt (den pH) der Flüssigkeit, in der sämtliche chemischen Substanzen von einer Zelle zur anderen wandern. Ebenso verhält es sich mit der Temperatur, deren Schwankungen wir nur allzu genau wahrnehmen, wenn wir Fieber haben oder – häufiger – wenn wir uns über zu heißes oder zu kaltes Wetter beklagen. Es gilt ebenso für die Mengen der Hauptnährstoffgruppen – Zucker, Fette, Proteine – im Blut. Weichen ihre Werte von dem engen Wohlfühlbereich ab, empfinden wir das als unangenehm, und wenn ein solcher Zustand längere Zeit anhält, ohne dass wir daran etwas ändern können, werden wir ziemlich aufgeregt. Diese mentalen Zustände und Verhaltensweisen sind Anzeichen, dass die eisernen Regeln der Lebenssteuerung nicht befolgt werden; es sind Hinweise aus den Niederungen der unbewussten Verarbeitung, die auf das geistbegabte, bewusste Leben zielen und von uns verlangen, dass wir eine vernünftige Lösung für eine Situation finden, mit der die automatischen, unbewussten Mechanismen nicht mehr zurechtkommen.
Wenn man diese Parameter einzeln misst und in Zahlen ausdrückt, so stellt man fest, dass sie normalerweise nur in einem sehr engen Bereich schwanken. Mit anderen Worten: Leben erfordert, dass der Körper um jeden Preis und für buchstäblich Dutzende von Bestandteilen in seinem dynamischen Inneren jeweils eine Reihe von Schwankungsbreiten aufrechterhält. Alle Tätigkeiten, auf die ich zuvor angespielt habe – Finden von Energiequellen, Aufnahme und Umsatz energiereicher Produkte und so weiter –, zielen darauf ab, die chemischen Parameter des Körperinneren (sein inneres Milieu) innerhalb jener magischen Spanne zu halten, die mit dem Leben vereinbar ist. Diese magische Spanne wird als homöostatischer Bereich bezeichnet, und den Prozess, durch den der Gleichgewichtszustand erreicht wird, nennt man Homöostase . Diese nicht gerade eleganten Begriffe wurden im 20. Jahrhundert von dem Physiologen Walter Cannon geprägt. Er erweiterte die Entdeckungen des französischen Biologen Claude Bernard, der im 19. Jahrhundert den anschaulicheren Begriff milieu intérieur (»inneres Milieu«) geschaffen hatte. Damit meinte er jenes chemische Gemisch, in dem der Kampf ums Leben ununterbrochen, aber vor den Blicken verborgen abläuft. Aber obwohl man das Wesentliche an der Regulation des Lebendigen (nämlich den Prozess der Homöostase) bereits seit über einem Jahrhundert kennt und obwohl diese Kenntnisse auch täglich ihre Anwendung in Biologie und Medizin finden, konnte man ihre tiefere Bedeutung im Hinblick auf Neurobiologie und Psychologie leider nicht richtig einschätzen. 6
Die Ursprünge der Homöostase
Wie wurde die Homöostase in ganze Organismen eingepflanzt? Wie kamen einzelne Zellen zu ihrer Art der Lebensregulation? Wenn man sich einer solchen Frage annähern will, muss man sich einer problematischen Form der Nachkonstruktion ( reverse engineering ) bedienen. Dies ist niemals einfach, denn während des größten Teils unserer Wissenschaftsgeschichte sind wir im Denken vom gesamten Organismus ausgegangen, nicht aber von den Molekülen und Genen, aus denen die Organismen entstanden sind.
Die Homöostase begann auf der Ebene von Organismen ohne Bewusstsein, Geist oder Gehirn. Damit stellt sich die Frage, wo und wie die homöostatische Zielsetzung in die Geschichte des Lebendigen Einzug hielt. Diese Frage führt uns von Einzellern zu den Genen und von dort zu Molekülen, die sogar noch einfacher sind als DNA und RNA. Die homöostatische Zielsetzung dürfte aus diesen einfachen Ebenen hervorgegangen sein und hat möglicherweise sogar mit den grundlegenden physikalischen Prozessen zu tun, die die Wechselwirkungen von Molekülen bestimmen: Moleküle stoßen sich ab oder ziehen sich an, sie lagern sich zusammen und beteiligen sich an explosiven Reaktionen, oder aber sie weigern sich, dies zu tun.
Die Organismen wiederum sind offensichtlich durch natürliche Selektion entstandene Gen-Netzwerke, die von diesen mit der Fähigkeit zur Homöostase ausgestattet wurden. Welche Kenntnisse besaßen (und besitzen) Gen-Netzwerke, dass sie solche klugen Anweisungen an die von ihnen hervorgebrachten Organismen weitergeben können? Wo liegt der Ursprung des Wertes – seine »primitive Form« –, wenn wir uns unterhalb der Ebene von Geweben und Zellen auf das Niveau der Gene
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