Selbst ist der Mensch
späteren Kapiteln die Rede sein wird. Manche Leser werden vielleicht den Eindruck haben, dass die lange Darstellung im Kapitel 1 den Lesefluss hemmt, aber ich verspreche, dass der Rest des Buches dadurch besser verständlich wird.
Das Selbst als Zeuge
Schon seit Jahrmillionen haben unzählige Lebewesen einen aktiven Geist, aber seine Existenz wurde nur bei denen zur Kenntnis genommen, bei denen sich ein Selbst entwickelte, das den Geist bezeugen konnte. Und erst nachdem der Geist eine Sprache entwickelt hatte und lange genug lebte, um etwas zu sagen, wurde die Existenz des Geistes allgemein bekannt. Das Selbst als Zeuge ist jenes zusätzliche Extra, das in jedem von uns die Vorgänge offenbart, die wir als mental bezeichnen. Wir müssen verstehen, wie dieses Extra geschaffen wird.
Die Begriffe »Zeuge« und »Protagonist« sind nicht ausschließlich als Metaphern gemeint. Sie sollen vielmehr deutlich machen, welches Spektrum von Rollen das Selbst im Geist übernehmen kann. Einerseits können wir mithilfe der Metaphern erkennen, welcher Situation wir gegenüberstehen, wenn wir mentale Vorgänge verstehen wollen. Ein Geist, der keinen Selbst-Protagonisten als Zeugen hat, ist dennoch ein Geist. Da aber das Selbst das einzige natürliche Mittel ist, mit dem wir den Geist kennenlernen können, sind wir vollständig von der Gegenwart, den Fähigkeiten und den Grenzen des Selbst abhängig. Wegen dieser systematisch bedingten Abhängigkeit kann man sich das Wesen der Geistesprozesse nur sehr schwer unabhängig vom Selbst vorstellen ; unter Evolutionsgesichtspunkten ist aber klar, dass reine Geistesprozesse früher vorhanden waren als Selbst-Prozesse. Das Selbst erlaubt einen Blick auf den Geist, aber dieser Blick ist vernebelt. Die Aspekte des Selbst, mit deren Hilfe wir Interpretationen über unser Dasein und die Welt formulieren können, unterliegen zumindest auf kultureller, sehr wahrscheinlich aber auch auf biologischer Ebene nach wie vor der Evolution. Die höheren Bereiche des Selbst zum Beispiel werden nach wie vor durch alle möglichen sozialen und kulturellen Wechselbeziehungen sowie durch die wachsenden wissenschaftlichen Kenntnisse über die Funktionsweise von Geist und Gehirn abgewandelt. Ein ganzes Jahrhundert mit Kino- und Fernsehfilmen hatte sicher ebenso Auswirkungen auf das Selbst der Menschen wie die globalisierten Gesellschaften, die uns die elektronischen Medien heute ständig vor Augen führen. Und was die Auswirkungen der digitalen Revolution angeht, so stehen wir mit der Beurteilung noch ganz am Anfang. Kurz gesagt, hängt unser einziger direkter Blick auf den Geist von einem Teil ebendieses Geistes ab, und wir haben guten Grund zu der Annahme, dass ein solcher Selbst-Prozess kein umfassendes, zuverlässiges Bild der gesamten Vorgänge liefern kann.
Nachdem wir gerade festgestellt haben, dass das Selbst unser Zugang zum Wissen ist, erscheint es auf den ersten Blick vielleicht paradox oder geradezu undankbar, wenn wir seine Zuverlässigkeit infrage stellen. Aber genau das ist die Situation. Mit Ausnahme des Fensters, das unser Selbst uns unmittelbar zu unseren eigenen Schmerzen und Freuden öffnet, müssen wir die von ihm gelieferte Information infrage stellen, und zwar erst recht dann, wenn die Information sein eigenes Wesen betrifft. Das Gute dabei ist aber, dass das Selbst auch Vernunft und wissenschaftliche Beobachtungen ermöglicht hat: Vernunft und Wissenschaft korrigieren dann nach und nach die irreführenden Intuitionen, die vom Selbst ohne solche Hilfe in die Welt gesetzt werden.
Überwinden einer irreführenden Intuition
Man kann davon ausgehen, dass sich ohne Bewusstsein keine Kulturen und Zivilisationen entwickelt hätten. Das Bewusstsein war also in der biologischen Evolution eine folgenschwere Errungenschaft. Andererseits wirft aber die Natur des Bewusstseins für diejenigen, die seine biologischen Grundlagen aufklären wollen, ernste Probleme auf. Wir betrachten das Bewusstsein von unserem heutigen Entwicklungsstand aus – voller Geist und ausgerüstet mit einem Selbst. Darin kann man die Ursache für eine verständliche, aber problematische Verzerrung der Geschichte der Geistes- und Bewusstseinsforschung sehen. Von oben betrachtet, nimmt der Geist eine Sonderstellung ein, getrennt vom übrigen Organismus, zu dem er gehört. Von oben betrachtet, wirkt der Geist auch nicht nur sehr komplex – was sicherlich zutrifft –, sondern er scheint auch eine ganz andere Qualität
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