Selbst ist der Mensch
nach und nach durch die Evolutionsgeschichte zu den heutigen Organismen vorarbeiten. Dabei müssen wir die schrittweisen Veränderungen des Nervensystems erkennen und mit dem schrittweisen Auftauchen von Verhalten, Geist und Selbst in Verbindung bringen. Außerdem brauchen wir eine interne Arbeitshypothese, wonach geistige Abläufe gleichbedeutend mit bestimmten Abläufen im Gehirn sind. Natürlich werden geistige Tätigkeiten von der Gehirntätigkeit verursacht, die ihnen vorausgeht, aber in bestimmten Stadien des Prozesses entsprechen die geistigen Vorgänge bestimmten Zuständen der Gehirnschaltkreise. Mit anderen Worten: Manche neuronalen Muster sind gleichzeitig geistige Bilder. Erzeugen dann andere neuronale Muster ein ausreichend reichhaltiges Selbst-Prozess-Subjekt, können die Bilder bekannt werden. Wird aber kein Selbst erzeugt, sind die Bilder dennoch da; allerdings weiß dann niemand innerhalb oder außerhalb des Organismus von ihrer Existenz. Subjektivität ist nicht erforderlich, damit geistige Zustände existieren können, sondern nur dafür, dass man privat von ihnen weiß.
Kurz gesagt, erfordert die vierte Sichtweise, dass wir mithilfe der verfügbaren Tatsachen gleichzeitig einen Blick aus der Vergangenheit und aus dem Inneren tun, also buchstäblich eine Momentaufnahme eines Gehirns schaffen, das einen bewussten Geist enthält. Natürlich handelt es sich dabei nur um einen mutmaßlichen, hypothetischen Blick. Manche Teile dieser Vorstellungswelt werden dabei durch Tatsachen untermauert; es liegt aber in der Natur des »Geist-Selbst-Leib-Gehirn«-Problems, dass wir noch geraume Zeit mit theoretischen Annäherungen statt vollständiger Erklärungen leben müssen.
Man ist leicht versucht, die hypothetische Äquivalenz von Vorgängen in Geist und Gehirn als grobe Reduktion des Komplexen auf das Einfache zu betrachten. Dies wäre aber ein falscher Eindruck angesichts der Tatsache, dass neurobiologische Vorgänge von vornherein durchaus nicht einfach, sondern höchst komplex sind. Die Reduktion in den Erklärungen verläuft hier nicht vom Komplexen zum Einfachen, sondern vom extrem Komplexen zum ein wenig weniger Komplexen. In diesem Buch geht es zwar nicht um die biologischen Vorgänge bei einfachen Organismen, aber die Tatsachen, auf die ich in Kapitel 2 anspiele, machen eines klar: Das Leben von Zellen spielt sich in einem äußerst komplexen Universum ab, das formal in vielerlei Hinsicht unserem verschlungenen menschlichen Universum entspricht. Die Welt und das Verhalten eines einfachen Lebewesens, beispielsweise des Pantoffeltierchens ( Paramecium ), sind wirklich staunenswert und haben mehr mit uns gemein, als man auf den ersten Blick meinen möchte..
Ebenso ist man leicht versucht, die mutmaßliche Äquivalenz von Gehirn und Geist so zu interpretieren, als würde man damit die Bedeutung der Kultur für die Entstehung des Geistes gering schätzen oder als würde man der Rolle individueller Bemühungen für die Prägung des Geistes einen geringen Stellenwert beimessen. Wie noch deutlich werden wird, trifft das in keiner Weise meine Intentionen.
Aus dem vierten Blickwinkel heraus kann ich nun einige meiner früheren Aussagen neu formulieren, wobei ich Erkenntnisse der Evolutionsbiologie einbeziehe und das Gehirn einschließe: Seit Jahrmillionen hatten unzählige Lebewesen einen aktiven Geist, der sich in ihrem Gehirn abspielte, aber erst nachdem sich in diesem Gehirn ein Protagonist entwickelt hatte, der Zeugnis ablegen konnte, setzte das Bewusstsein im strengen Sinne ein, und erst nachdem sich in den Gehirnen eine Sprache entwickelt hatte, wurde allgemein bekannt, dass ein Geist existiert. Der Zeuge ist das Extra, das die Gegenwart unausgesprochener, im Gehirn ablaufender, von uns als mental bezeichneter Vorgänge offenlegt. Zu verstehen, wie das Gehirn dieses Extra erzeugt, den Protagonisten, den wir mit uns herumtragen und als Selbst oder Ich bezeichnen, ist ein wichtiges Ziel der neurobiologischen Bewusstseinsforschung.
Das Gerüst
Bevor ich das Gerüst des vorliegenden Buches skizziere, muss ich einige grundlegende Tatsachen erläutern. Der Geist der Lebewesen entsteht durch die Aktivität bestimmter Zellen, der Nervenzellen oder Neuronen. Diese haben ihre meisten Eigenschaften mit allen anderen Zellen unseres Körpers gemeinsam, sie funktionieren aber auf besondere Weise: Sie reagieren auf Veränderungen in ihrer Umgebung, sie sind erregbar (eine interessante Eigenschaft, die sie mit
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