Selbstmord (German Edition)
auflösten. Um dich beim Sprechen wohlzufühlen, brauchtest du die größtmögliche Nähe zu deinen Zuhörern, wie im Zweiergespräch, oder die größte Ferne, wie bei einer Ansprache. Zwischen beiden fühltest du dich missverstanden.
Gegen drei Uhr morgens, während du die Hand deiner Frau hieltst und zuhörtest, wie Christophe die versammelten, alle noch vollzählig anwesenden Gäste zum Lachen brachte, dachtest du an die Gespräche zurück, die du geführt hattest. Du warst von einem früheren Schulkameraden zum nächsten gewechselt, du hattest Grüppchen von einigen wenigen Personen Geschichten erzählt, und du hattest es geschafft, ohne Schmälerung des Gemeinten mit Paaren zu sprechen. Dieser Abend, zu dem du ohne Überzeugung gegangen warst, hatte dich letztlich begeistert. Du gehörtest einer Gemeinschaft an, die von Erinnerungen zusammengehalten wurde. Nicht einer der Gäste dieses Abends konnte glauben, als er es erfuhr, dass du damals schon an Selbstmord gedacht hattest.
Du wusstest, dass einige deiner Nächsten sich schuldig fühlen würden, deine Entscheidung zu sterben nicht vorausgeahnt zu haben. Sie würden darüber weinen, dass sie dir nicht helfen konnten, leben zu wollen. Aber du warst überzeugt, dass sie sich irrten. Nur du allein hättest dir mehr Lust am Leben als am Tod verschaffen können. Du hast dir Szenen vorgestellt, in denen jemand versuchte, dich aufzuheitern wie eine Mutter, die ihr melancholisches Kind an der Hand nimmt und ihm Gegenstände zeigt, die sie für lustig hält. Der Widerwille, der sich dabei in dir breitmachte, rührte nicht von der Ablehnung der wohlmeinenden Person her noch von der Art der spaßigen Dinge, die sie dir zeigen wollte, sondern von der Tatsache, dass Lebenslust nicht diktiert werden konnte. Du konntest nicht auf Bestellung glücklich sein, weder auf deine eigene noch auf die eines anderen. Die Glücksmomente, die du erlebt hattest, waren wie Augenblicke der Gnade. Du konntest ihre Ursachen verstehen, sie aber nicht selber herstellen.
In einem Secondhand-Laden hattest du ein Paar englische Schuhe aus schwarzem Leder gekauft, sie waren elegant und sachlich. Das Leder war von guter Qualität und kaum gebraucht, doch es trug Spuren seines Vorbesitzers. Die Spitzen der Schuhe waren nach der Form seiner Füße geformt, und diese war der deinen ähnlich. Als du sie im Laden anprobiertest, passten sie so perfekt zur deinen Körperformen, als hättest du sie schon monatelang getragen. Normalerweise zögertest du beim Kauf von Kleidung immer. Deine Garderobe war ausreichend bestückt, und da sie ausschließlich aus schlichten und klassischen Teilen bestand, kam sie auch nicht aus der Mode. Neue Kleidung zu kaufen wäre nur dann nötig gewesen, wenn die alte abgetragen gewesen wäre. Nicht Zweckmäßigkeit bestimmte deine Wahl, sondern deine Manie, beinahe identische Kleidungsstücke anzuhäufen. In einem Laden suchtest du immer nach einer besseren Variante dessen, was du schon besaßt, um letztlich eine perfekte Ausstattung zusammenzustellen, eine Allzweck-Uniform, die dich von der täglichen Last der Kleiderwahl befreien würde. Obwohl dir klar war, dass es eine solche Uniform nicht gab, gabst du deine Suche nicht auf. Trotz der zahlreichen schwarzen Schuhpaare, die du bereits besaßt, entschiedst du dich für den Kauf auch dieses neuen Paares. Sie zufällig in einem Secondhand gefunden zu haben, erschien dir wie ein Zeichen. Du wusstest noch nicht, wofür. Doch solltest du es bald herausfinden. Einige Tage später bist du zu einer Informationsveranstaltung der Grünen gegangen, die sich im Wahlkampf für die Regionalwahlen befanden. Du warst allein gekommen, und nach den Ansprachen hieltst du dich am Buffet auf, um mit Aktivisten ins Gespräch zu kommen. Die Grünen zogen dich mit ihren Ideen an, aber du hieltst sie für den Fall einer Wahl nicht für fähig, vernünftig zu regieren. Ein Paar ist auf dich zugekommen. Der Mann sprach über die Wichtigkeit, regionale Kulturen zu erhalten, insbesondere die Sprachen im Hinblick auf die im Zuge der Globalisierung zunehmende Ausbreitung des Englischen. Du hast dir seine abgegriffenen Erklärungen angehört und mit Kopfbewegungen geantwortet, die ihn im Glauben ließen, du stimmtest ihm zu. Seine Frau, die neben ihm stand, blieb stumm. Bis sich plötzlich ihr Gesicht verzerrte. Sie schaute dich an, schlug dann die Augen nieder und schaute dich erneut an. Dieses Hin und Her machte sie ganz nervös. Sie ging fort, um
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