Selbstmord (German Edition)
Ihr habt noch weitere drei Jahre in dieser luxuriösen Unwägbarkeit gelebt, bis zur Geburt deiner Schwester. Gerade als deine Eltern beschlossen, eine komfortablere Bleibe zu suchen, hat dein Vater deiner Mutter verkündet, er werde sie verlassen. Sie fand ein Haus, das kleiner und weniger hübsch war als das Schloss, dafür heimeliger und gemütlicher. Dort hast du dein zweites Zimmer bekommen, das du solange bewohntest, bis du mit deiner Frau zusammenzogst. Du warst einundzwanzig. In eurem Häuschen war dein drittes Zimmer. Das letzte.
Als ich dich zum ersten Mal sah, befandst du dich in deinem Zimmer. Du warst siebzehn Jahre alt. Du lebtest im Haus deiner Mutter, in der ersten Etage, zwischen dem Zimmer deines Bruders und dem deiner Schwester. Du verließt diesen Raum nur selten. Die Tür war immer abgeschlossen, selbst wenn du da warst. Dein Bruder und deine Schwester erinnern sich nicht, jemals in deinem Zimmer gewesen zu sein. Wenn sie dir etwas zu sagen hatten, riefen sie es durch die Tür. Niemand betrat dein Zimmer, um Ordnung zu schaffen, das hast du selbst erledigt. Ich weiß nicht, warum du aufgestanden bist und mir geöffnet hast, als ich klopfte. Du hast nicht gefragt, wer da sei. Woran hast du gemerkt, dass ich es war? An der Art, wie unter meinen Schritten die Dielen knarrten? Die Vorhänge waren zugezogen. Ein rotes Licht hat sanft den Raum erleuchtet. Du hast I Talk to the Wind von King Crimson gehört und geraucht. Ich kam mir vor wie in einem Nachtlokal. Draußen war helllichter Tag.
Deine Frau hat sich im Nachhinein erinnert, dass der Comic, den du auf den Tisch gelegt hattest, aufgeschlagen war, bevor er herunterfiel. Dein Vater hat dann Dutzende von Exemplaren gekauft; er verschenkt sie an alle und jeden. Er kennt die Texte und Bilder des Buches auswendig; eigentlich passte es nicht zu ihm, aber irgendwann identifizierte er sich schließlich damit. Er sucht nach der Seite und auf der Seite nach dem Satz, den du ausgewählt haben könntest. Er notiert seine Gedanken in einem Ordner, der auf seinem Schreibtisch steht und dessen Rücken den Schriftzug trägt: »Selbstmord/Vermutungen«. Wenn man den Schrank zur Linken seines Schreibtischs öffnet, findet man darin ein Dutzend Ordner im gleichen Format und mit derselben Aufschrift voll handschriftlicher Seiten. Er zitiert die Sprechblasen des Comics, als seien sie Prophezeiungen.
Du hast selten Unrecht gehabt, denn du hast wenig gesprochen. Du hast wenig gesprochen, weil du wenig ausgegangen bist. Wenn du ausgingst, dann hörtest und schautest du zu. Jetzt, da du nicht mehr sprichst, wirst du immer im Recht sein. Eigentlich sprichst du noch immer, durch jene, die wie ich dich wieder aufleben lassen und dich befragen. Wir hören deine Antworten und bewundern ihre Klugheit. Und wenn die Tatsachen deine Aussagen widerlegen, beschuldigen wir uns selbst, sie falsch interpretiert zu haben. Dir die Wahrheiten, uns die Fehler.
Du lebst noch genau so lange wie jene, die dich kannten. Mit dem letzten von ihnen wirst du sterben. Es sei denn, einige von ihnen erhalten dich in Form von Wörtern und Sätzen in der Erinnerung ihrer Kinder aufrecht. Wie viele Generationen lang wirst du so leben, als gesprochene Person?
Du bist nach Paris zu einem Konzert gefahren. Am Ende des ersten Teils hat sich der Sänger die Adern aufgeschnitten, und sein Arm, der kreisförmige Bogen beschrieb, verspritzte das Blut bis in die ersten Reihen. Deine braune Lederjacke bekam ein paar Tropfen ab; als sie trockneten, mischten sie sich in die Farbe der Jacke. Nach dem Konzert bist du mit den Freunden, die dich begleiteten, in eine Bar gegangen, deren Namen du später vergessen hast. Du hast stundenlang mit Unbekannten gesprochen. Danach seid ihr auf der Suche nach anderen Lokalen durch die Straßen gelaufen, doch alles war geschlossen. Ihr habt euch auf die Bänke eines Platzes in der Nähe des Bahnhofs Saint-Lazare gelegt und die Formen der Wolken gedeutet. Um sechs Uhr habt ihr gefrühstückt. Um sieben habt ihr den ersten Zug zurück nach Hause genommen. Als deine Freunde am nächsten Tag wiederholten, was du zu den Unbekannten im Café gesagt hattest, konntest du dich an nichts erinnern. Es war, als hätte ein anderer in dir gesprochen. Du konntest weder deine Worte noch deine Gedanken wiedererkennen, aber du mochtest diese Worte umso mehr. Es hätte oft genügt, dass ein anderer an deiner Stelle deine Äußerungen macht, damit du sie hättest mögen können. Du hast dir
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