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Selbstmord (German Edition)

Selbstmord (German Edition)

Titel: Selbstmord (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Édouard Levé
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Wollpullover. Das Leben weicht aus deinen Lungen, um die Flammen zu löschen. Du siehst glücklich aus.
    Weil du jung gestorben bist, wirst du niemals alt sein.
    Dein Großvater sprach noch weniger als du. Er lächelte still, wenn man ihn mit seiner Angelrute die Bäume entlang zum Flussufer gehen sah, das den Park begrenzte und wo er den Nachmittag verbrachte. Eines Tages turnte ich auf den Ästen herum, die über das Wasser ragten, und meine Armbanduhr fiel hinein. Jahre später, während eines trockenen Sommers, führte der Fluss kaum Wasser, und dein Großvater fand die Uhr wieder. Ich habe sie aufgezogen. Sie fing wieder an zu laufen. Du warst bereits zwei Jahre tot.
    Deine Freundin, deren Stiefvater ein großes Hotel leitete, hatte dir ein Praktikum für den Sommer verschafft. Du hast als Türsteher und im Reinigungsdienst gearbeitet. Ich konnte mir dich schwer in einer Portiersuniform vorstellen, mit einem Umhang aus vergangenen Zeiten und einer rotschwarzen Kappe. Beim Säubern der Zimmer hast du manchmal ungewöhnliche Dinge gefunden. Einmal hast du im Nachtschränkchen eines Mannes, den du als »den Bänker« ausgemacht hattest, ein in Folie verschweißtes Päckchen mit Schwulenpornos und einem Dildo entdeckt, sie waren unbenutzt. Du hast mir alles gezeigt. Du hattest nichts geöffnet. Hat man es nach deinem Tod wiedergefunden? Wie hat man seine Gegenwart in deiner Wohnung gedeutet?
    Du hast mir oft vom Buch Die Ruine der Familie Garnieri erzählt. Sein Autor, Prospero Miti, las seine Bücher nie im gedruckten Zustand, sondern nur die Korrekturfahnen. Einmal las er ausnahmsweise doch ein bereits gedrucktes Buch und bemerkte, dass die Reihenfolge der Kapitel nicht dem entsprach, was er geschrieben hatte. Da er das Buch aber so mochte, wie es war, verlangte er keine Korrektur der Neuauflage. Du warst auf diese Anekdote gestoßen, nachdem du das Buch bereits gelesen hattest. Du wurdest nicht müde, es wieder und wieder zu lesen, um die ursprüngliche Folge herauszufinden.
    Du hast den Fahrstuhl genommen, um herunter-, aber nicht, um hinaufzufahren.
    Du hast geglaubt, mit dem Älterwerden würdest du weniger unglücklich sein, weil du dann Gründe hättest für deine Traurigkeit. Da du noch jung warst, war deine Verzweiflung bodenlos, da du sie für unbegründet hieltst.
    Dein Selbstmord war von skandalöser Schönheit.
    Einmal bist du im Winter allein zu Pferd aufgebrochen, um querfeldein zu reiten. Es war vier Uhr nachmittags. Die Nacht fiel herein, und du warst kilometerweit vom Gestüt entfernt. Ein Gewitter war im Anzug. Es brach los, während dein Pferd über trostlose Felder galoppierte. In der Ferne zeichnete sich schwarzblau die Silhouette der Stadt ab. Blitze und Donner schreckten das Tier nicht. Dich dagegen setzte die Gewalt des Unwetters unter Hochspannung. Du warst eins mit dem Tier, dessen Geruch vom Regen verstärkt wurde. Du brachtest das letzte Stück in einer wasserdurchtränkten Finsternis hinter dich, die Hufe des Pferdes peitschten mit jedem Schritt die schwere, feuchte Erde.
    Du hast lieber stehend in einer Buchhandlung als sitzend in einer Bibliothek gelesen. Du wolltest die Literatur von heute entdecken, nicht die von gestern. Die Vergangenheit den Bibliotheken, die Gegenwart den Buchhandlungen. Und doch interessierten dich die Toten mehr als die Zeitgenossen. Du hast vor allem Autoren gelesen, die du »die lebenden Toten« nanntest: gestorbene Schriftsteller, die noch immer veröffentlicht werden. Für die Vergegenwärtigung des Wissens von gestern vertrautest du auf die Verleger. Du glaubtest nicht an wundersame Entdeckungen vergessener Schriftsteller. Du meintest, die Zeit erledige die Auslese, und dementsprechend solle man eher Autoren der Vergangenheit lesen, die heute verlegt werden, als Autoren von heute, die morgen vergessen sein werden.
    In der Stadt gab es zwei Buchhandlungen. Die kleine war besser als die große, aber in der großen war es eher möglich zu lesen, ohne sich zum Kauf genötigt zu fühlen. Es gab mehrere Verkäufer und mehrere Räume, keiner lauerte den Kunden auf. In der kleinen spürtest du den Blick des Buchhändlers auf dir. Dort gingst du nicht hin, um Bücher zu entdecken, sondern um die zu kaufen, die du bereits ausgewählt hattest.
    Einmal habe ich gehört, wie du einen alten Bauern imitiertest, der hinter dem Haus deiner Mutter lebte und der die Begrüßungsformel »Wie geht’s, wie steht’s« auf die Kurzform »Wehweh« brachte. Du bist auf ihn

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