Semmlers Deal
Neben ihm rauschte der Verkehr. An der Straße lagen Tankstellen und gewöhnliche Einfamilienhäuser, die man in Zeiten hierher gebaut hatte, als die Grundstücke billig und die Autos seltener waren. Ein paar hochmoderne Bauten im üblichen Quaderstil, reduziert auf die geometrische Form des Quaders, Länge, Breite, Höhe, Glas und Beton und Aluminium. In einem dieser Häuser gab es ein Restaurant, das in der Stadt als sehr gut und sehr teuer bekannt war; bei den vielen Schweizer Gästen als sehr gut und sehr billig, weshalb sie es in Scharen frequentierten. Semmler war mit Ursula ein paar Mal hier gewesen, nur ein paar Mal, was er nun bedauerte, denn das Lokal lag jetzt außerhalb ihrer Reichweite.
Das Restaurant war rundum verglast, die Scheiben braun getönt, so dass man bei Tageslicht von außen nicht hineinschauen konnte; in der Nacht war es etwas besser wegen der Innenbeleuchtung. Wenn man wie Semmler nah genug ans Glas herantrat, ließen sich Leute, die an einem Randtisch saßen, identifizieren, zum Beispiel Christoph Wurtz am Tisch Nummer vier auf der Parkplatzseite und ihm gegenüber Ursula.
Ja, genau, Ursula, kein Zweifel. Was auf den Tellern lag, konnte Semmler nicht richtig erkennen, sah aus wie Salat, und diese weißen Stückchen vermutlich Shrimps, vielleicht aber nur geschälte Schwarzwurzel, mariniert; jetzt spießte Ursula eines auf ihre Gabel, streckte sie auf die andere Seite des Tisches, als wolle sie Christoph Wurtz bedrohen, daswar aber nicht so, denn der lachte, beugte sich vor und pflückte das weiße Stückchen von der Gabel. Mit dem Mund. Ursula lachte auch. Sie fütterte ihren Chef, daran bestand kein Zweifel. Sie saß mit ihrem Chef lang nach Dienstschluss in einem Haubenrestaurant und fütterte ihn. Mit Shrimps. Oder geschälter, marinierter Schwarzwurzel, konnte auch sein. In der Kanzlei Dr. Wurtz schien ein ganz ausgezeichnetes Betriebsklima zu herrschen. Seine Frau wurde von ihrem Chef also zum Essen ausgeführt. Wenn sie selber zahlt, dachte er, hätte ich das gemerkt im Lauf der Zeit, das Geld würde fehlen, es geht unheimlich ins Geld, wenn man hier regelmäßig essen geht, das ist ja der Grund, warum wir es nicht tun ... essen gehen. Was heißt »wir«? »Wir« gibt’s nicht. Er ging nicht hierher. Sie schon. Mit jemandem, der Geld hatte. Es war ganz einfach.
Die vielen Überstunden. Wurtz hatte Geschmack, das hätte er ihm nicht zugetraut. Ein Sinnenmensch, sieh einer an! Nun ja, nach der Trennung von Hilde ... Semmler spürte, dass seine Gedanken der Situation nicht angemessen waren. Was ging ihn die Persönlichkeitsentwicklung des Dr. Wurtz an? Er hätte sich besser um die seiner Frau gekümmert. Getönte Scheibe hin oder her, Shrimps oder Schwarzwurzel, Geschäftsessen oder Überstunden, da drin saß ein Liebespaar, das nicht einmal im Ansatz versuchte, zu verbergen, dass es eines war. Sie hatte die Hände über den Tisch ausgestreckt, die seinen erfasst. Sie hielten sich an den Händen, eine Minute, wie ihm vorkam, vielleicht zwei, währenddessen wurde nicht gegessen, beim Salat ist es egal, dachte er, aber wenn sie das beim nächsten Gang auch so machen, wird alles kalt, der nächste Gang ist sicher etwas Warmes ... er verlor sich in Grübeleien, wandte sich ab. Erkonnte hier nicht bleiben, er stand auf der Straße und beobachtete Gäste eines Restaurants durch die Scheibe, das musste seltsam aussehen, sogar verdächtig. Er ging rasch weiter.
Beim Spital drehte er um, lief die zwei Kilometer zurück, dachte über das Gesehene nach, aber nicht so, wie er das hätte tun sollen, es fiel ihm auf, dass er sich nicht adäquat verhielt; adäquates Denken brachte er erst recht nicht fertig. Er hätte hineingehen können, nein, hineinstürmen, wenn schon, denn schon und die beiden »zur Rede stellen«. Unklar war ihm aber, wie das ging, das »zur Rede stellen«. Was sagte man da? Zum Beispiel »Was tut ihr hier?« Idiotisch. Es war ja klar, was sie taten. Shrimps oder Schwarzwurzeln essen oder inzwischen Kalbsbraten an Marsala oder doch schon Crème brûlée – all dies nur als Vorspiel. Natürlich. »Was tut ihr hier?« war kein guter Satz, taugte nur, den betrogenen Ehemann als noch größeren Trottel dastehen zu lassen. Was sonst? »So sehen also eure Überstunden aus!« Schwachsinn. Das war keine Situation, in der dieser Dritte, der Gehörnte, etwas sagen konnte. Alles, was er von sich gab, würde ihn nur noch lächerlicher erscheinen lassen, ob Wut, Empörung, Ironie,
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