Sepp und das Millionending
Handeln trieb. „Ich warte noch eine Stunde — oder sagen wir genau: bis 21 Uhr“, entschied er. „Wenn’s dann noch genauso stark regnet wie jetzt, bleiben wir hier und hauen uns in die Klappe.“
Träge kroch die Zeit dahin, und jede Minute des Wartens lähmte die Unternehmungslust der vier Freunde mehr. Statt nachzulassen, wurde der Regen sogar noch heftiger. Das Gewitter, das erst nur von Westen her aufgezogen war, tobte sich jetzt rundum in allen Himmelsrichtungen aus.
Männe und Flöhchen waren bereits in ihre Schlafsäcke geschlüpft, und auch Sepp machte sich bald darauf zur Nachtruhe fertig. Es schien aussichtslos, daß der Regen in den nächsten Stunden nachlassen oder gar aufhören würde.
Der dicke Willem war der einzige, der die Hoffnung noch nicht aufgab. Aber er legte sich auch hin, wenn auch nur auf die Luftmatratze und den Schlafsack, statt hineinzukriechen.
Da seine Kameraden schlafen wollten und Willem sich deshalb mit ihnen nicht mehr unterhalten konnte, nahm er sich einen Abenteuerroman vor, um sich die Zeit angenehmer zu vertreiben. Die Taschenlampe hatte er von der Zeltstange heruntergenommen und hinter seinem Kopf auf einen Rucksack gelegt, so daß der Lichtkegel genau auf die Buchseiten fiel. Ein Blick auf die Armbanduhr zeigte Willem, daß es erst halb neun war.
Lag es an dem Buch, das langatmig statt spannend war, oder lag es an dem teils blasenden, teils schnarchenden Atmen der eingeschlafenen Kameraden? Kurz und gut: bald rutschte dem dicken Willem das Buch aus der Hand, und sein Kopf fiel schlaff auf die Seite. Mit lautem Schnarchen stimmte er in das „Quartett für vier junge Schläfer“ ein — und zwar am lautesten natürlich, wie das nun mal seine Art war.
Lange jedoch konnte sich der dicke Willem nicht auf seinen Lorbeeren — oder vielmehr auf seiner Luftmatratze ausruhen. Er war in eine wilde Schlacht mit einer Bande von Wilderern, Bankräubern und Bilderdieben verwickelt, und je mehr er von ihnen zur Strecke brachte, desto mehr neue Gegner tauchten von vorn und hinten, von links und rechts auf. Sie alle schossen auf ihn mit Revolvern und Maschinenpistolen, von denen die meisten zwei, drei und noch mehr Läufe hatten. Nur Willem stand als einziger da, ohne Waffen, und ließ seine geballten Hände — immer ein Dutzend auf einmal — durch die Gegend sausen. Nur einen einzigen Gegenschlag mußte er einstecken — ausgerechnet auf den Hintern! Und das war noch nicht mal ein Faustschlag, sondern ein ganz gemeiner Fußtritt. Dieser Fußtritt traf den dicken Willem allerdings so stark, daß er davon aufwachte.
„Rindviech, saudamisches!“ war alles, was Willem auf bayerisch knurren hörte, und was er sah, war Sepp, der dicht neben ihm lag und sich schlaftrunken auf die andere Seite rollte.
Ich muß ihm im Traum einen schweren Haken verpaßt haben, dachte der dicke Willem, und dafür hat er sich postwendend mit einem Fußtritt gerächt...
Es war erst halb zehn, wie Willem auf seiner Armbanduhr feststellte. Die Taschenlampe auf dem Rucksack brannte noch. Er nahm sie und knipste sie aus.
Ohne einen Blick ins Freie zu werfen, hörte er, daß die Regentropfen in unverminderter Heftigkeit auf die Zeltplane klatschten. Die Ahr mußte angeschwollen sein, denn lauter als sonst drang das Rauschen der Strömung zu ihm herüber.
Willem fror, denn immer noch lag er auf dem Schlafsack statt darin.
Eigentlich könnte ich mich auch ausziehen und in den Schlafsack kriechen, überlegte er. Jetzt ist es doch zu spät, ins Dorf zu gehen — und noch dazu bei diesem Sauwetter!
Aber er war zu faul zu beidem: sich auszuziehen und in den Schlafsack hineinzuschlüpfen. Er zog ihn einfach über sich und deckte sich damit zu.
Der dicke Willem war müde und zugleich hellwach. Zu viele Gedanken schossen ihm durch den Kopf, und immer wieder stand das Gesicht des Mannes in der Jagdhütte vor ihm.
Irgendwo habe ich es schon mal gesehen — das ist so klar wie Kloßbrühe! Aber wo? Und wann?
So grübelte der dicke Willem. Fotos von Bankräubern, Betrügern, Dieben und Mördern tauchten in seiner Erinnerung auf — Fotos, die in den letzten Monaten in Zeitungen und Zeitschriften abgebildet waren. Er wühlte in Gedanken noch einmal die Verbrecherkartei des Polizeipräsidiums durch. Aber unter all den Gesichtern, die ihm da entgegenstarrten, wollte keines zu dem Gesicht des Mannes in der Jagdhütte passen.
Verflixt und zugenäht! stöhnte der dicke Willem und warf sich unruhig auf den Bauch.
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