Sepp und seine Bande
nicht, dann mußt du dich auf den Hosenboden setzen, um alles nachzuholen. Setz dich jetzt zunächst einmal hin.“
„Ja, Herr Doktor, wohin?“
Verlegen schaute Sepp auf die Pultreihen im Klassenzimmer. Auf den ersten Blick schien ihm überhaupt kein Platz mehr frei zu sein. Vor seinen Augen schwamm nur ein Haufen Pulte mit Jungen.
Doch plötzlich blinzelte er, seine Augenlider plimperten nervös — Sepp zuckte zusammen. Dahinten auf dem Stuhl hatte er einen stämmigen Jungen mit Sommersprossen und Bürstenhaarschnitt erspäht, der ihn spöttisch angrinste. Das war doch einer von den drei Jungen, die gestern nachmittag mit ihren Fahrrädern hinter dem Möbelwagen gestanden und ihn angepflaumt hatten! Und der schmächtige Junge neben ihm, der so aussah, als habe er seit drei Jahren vergessen zu wachsen — das war der zweite von der Bande!
Jetzt fehlt nur noch der dritte — dieses Elefantenbaby...! dachte Sepp aufgeregt.
Wie ein Pfeil schoß sein Blick durch den Raum — und traf mitten ins Ziel, als der Lehrer gerade zu ihm sagte:
„Hier vorn in der ersten Reihe ist noch ein einziger Platz frei. Vielleicht ist es gut so, da wirst du nicht so leicht abgelenkt wie hinten in den letzten Reihen.“
„Ja, Herr Studienrat“, hauchte Sepp kaum hörbar.
Er starrte in ein rundes Gesicht, das wie ein fetter Pfannkuchen glänzte und ihn mit drohendem Hohnlächeln empfing. Der Kürbiskopf saß auf einem kurzen, gedrungenen Hals, der so wirkte, als sei er in die mächtigen, schon fast männlichen Boxerschultern hineingewuchtet. Die fleischigen, starkknochigen Arme schienen einem Gewichtheber zu gehören, der Tag und Nacht zentnerschwere Hanteln stemmte.
Jetzt wußte Sepp auch schlagartig, wieso ihm vorhin die tiefe brüchige Stimme so bekannt vorgekommen war, die bei seinem Eintritt in die Klasse gespöttelt hatte:
„Mann, mich laust der Affe — das Baby mit dem Sepplhöschen!“
Dieser Schwerathlet war tatsächlich der Dritte im Bunde: der dicke Willem!
„Na, willst du nicht?“ fragte Studienrat Dr. Pöttgen, als Sepp zögerte, neben dem dicken Willem Platz zu nehmen.
Und wieder lachte die Klasse schallend.
„Doch, doch, Herr Doktor!“ druckste Sepp eingeschüchtert und schob sich hinter sein Pult. Dabei benahm er sich so ungeschickt, daß er bei seinem aufgeknöpften Jankerl mit den ledernen Hosenträgern an der Pultecke hängenblieb. Das Pfannkuchengrinsen neben ihm wurde noch unverschämter.
„So, Jungs, jetzt ist Schluß mit dem Zwischenspiel!“ rief der Lehrer seine Schüler wieder zur Ordnung. „Wir haben schon genug Zeit verloren. Also weiter im Text!“
Dr. Pöttgen fuhr fort, Eigenheiten der englischen Grammatik zu erläutern.
Anfangs hörte Sepp gar nicht richtig zu. Allzuviel Neues lenkte ihn ab, und die unmittelbare Nähe zu seinem Erzfeind — denn als solchen betrachtete er den dicken Willem — ließ ein Gefühl des Unbehagens in ihm aufkommen.
Daß ich auch ausgerechnet neben diesem Rhinozeros sitzen muß...! dachte Sepp gereizt, und er ärgerte sich darüber, daß er heute morgen wieder dasselbe angezogen hatte wie gestern: die dreiviertellange Lederhose und das bayerische Trachtenjankerl.
Die damischen Hirsche mochn sich nur drüber lustig. Dös hob i glei gmerkt, als i in die Klassn getreten bin. Aber i hob wenigstens net bayrisch gred. Na, dös hob i net!
Während also Sepp urbayerisch dachte, daß er nicht urbayerisch geredet hatte, spürte er eine gewisse Genugtuung, und mit dieser Genugtuung kehrte allmählich sein Selbstvertrauen zurück. Waren ihm die Erklärungen des Lehrers und die Antworten der aufgerufenen Schüler bisher nur wie ein Wortschleier vorgekommen, fern und unklar, so schnappte er jetzt einzelne Fetzen auf — und dann ganze Sätze.
Sepp war plötzlich hellwach und völlig bei der Sache! Ja, jetzt lächelte er sogar — die Aussprache des Lehrers, vor allem aber der Klassenkameraden, klang zu komisch: ein Singsang, der munter die Tonleiter hinauf- und hinunterging. Das war echt Kölner Mundart — oder „Kölsch“, wie man hier sagte.
So wie die Jungen gestern und heute über seine bayerische Aussprache gelacht hatten, so lachte er jetzt über den rheinischen Singsang. Jedesmal wenn ein aufgerufener Schüler sprach, warf Sepp einen Blick hinüber und streifte dabei auch die Gesichter der anderen. Die Entdeckung, die er dabei machte, war ebenso verblüffend wie selbstverständlich: Die Jungen — ob groß oder klein, ob dick oder dünn — sahen im
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