Der Flächenbrand der Empörung - wie die Finanzkrise unsere Demokratien revolutioniert
Vorwort
Der Versuch, der Geschichte hinterherzulaufen, ist unweigerlich zum Scheitern verurteilt, gerade in einem Jahr wie 2011, das ständig neue Überraschungen für uns bereithielt. Ich bemühte mich seit Monaten, mit der Lawine von Ereignissen Schritt zu halten, die die Wirtschaftskrise losgetreten hat. Ein Augenblick mangelnder Aufmerksamkeit genügt, um den roten Faden zu verlieren, der sich durch die sich überschlagenden Ereignisse zieht – absurd, unbegreiflich, bedrohlich. Und doch ist es gerade in diesem Chaos wichtig, die Zusammenhänge zu erkennen, um nicht in Panik zu verfallen.
Nach den außerordentlichen Ereignissen im Herbst 2011 war es erforderlich, das Vorwort und die Schlussfolgerungen in der Originalausgabe dieses Buchs zu aktualisieren. In der kurzen Zeit zwischen Ende August 2011, als die erste Auflage in Druck ging, und Ende November 2011, dem Erscheinungstermin der vierten, ist so einiges geschehen: Am 20. Oktober 2011 ereilte Gaddafi dasselbe Schicksal wie Mussolini, er wurde von den eigenen Leuten getötet. Am 16. November trat Silvio Berlusconi als Ministerpräsident zurück, ein historisches Ereignis, das in Italien auf Straßen und Plätzen im ganzen Land gefeiert wurde. Der Flächenbrand der Revolution ist auf Europa übergesprungen, hat den Atlantik überquert und die ganze Welt erfasst. Dies wurde am 15. Oktober 2011 offensichtlich, als beim ersten weltweiten Protesttag Bürger in den verschiedensten, teils weit voneinander entfernten Ländern gemeinsam auf die Straße gingen und riefen: »Wir wollen die Demokratie zurück!«
Wer hätte sich zu Beginn des Sommers vorstellen können, dass das Zentrum des globalen Finanzkapitalismus, die Wall Street, von Aktivisten der Occupy-Bewegung besetzt werden würde? Doch wenn man Zahlen wie die folgenden kennt, sind diese Ereignisse gar nicht mehr so verwunderlich: In den ers ten neun Monaten des Jahres 2010 – für die Mehrzahl der Menschen ein schwieriges Jahr – bildeten die acht größten amerikanischen Banken Rückstellungen in Höhe von 130 Milliarden Dollar für Bonuszahlungen – das macht 121.000 Dollar pro Angestellten. Vier Jahre zuvor, als die Wirtschaft boomte, waren es noch 113 Milliarden Dollar. Ein geringerer Betrag also, genauer gesagt 114.000 Dollar pro Angestellten. Offensichtlich bekommen die Rezession nur jene zu spüren, die nicht zum Geldadel gehören, also 99 Prozent der Wähler.
Die Demonstranten, die im Zuccotti-Park ihr Hauptquartier aufschlugen, eine kleine Grünfläche zwischen Ground Zero und der New Yorker Börse, unterscheiden sich nicht allzu sehr von ihren »Kollegen« in den arabischen und europäischen Ländern oder in Israel: Sie sind arbeitslos oder unterbeschäftigt und fühlen sich von der Politik nicht ernst genommen. In den folgenden Tagen schossen die Zeltlager weltweit wie Pilze aus dem Boden: in den Vereinigten Staaten, Australien, Asien und im Rest der Welt. Der Funkenflug wurde begünstigt durch ein Klima allgemeiner Unzufriedenheit, die ihre Wurzeln in den enormen gesellschaftlichen Verwerfungen hat, die sich im Gefolge der Globalisierung in den USA gebildet und dann über den ganzen Planeten ausgebreitet hatten. Aus einer Umfrage des Informationsdienstleisters Bloomberg ging hervor, dass ein Erdöltrader an der Rohstoffbörse mit zehn Jahren Berufserfahrung im Jahr etwa eine Million Dollar verdient. Ein Neurochirurg mit derselben Berufserfahrung bringt es nur auf 600.000 Dollar. Banker, die sich auf den lohnenden Bereich »Mergers & Acquisitions« spezialisiert haben, also Firmenfusionen bzw. -aufkäufe, haben ein durchschnittliches Jahreseinkommen von zwei Millionen Dollar, etwa zehnmal so viel wie ein Forscher, der ein Mittel gegen den Krebs sucht. Das ist nicht die Gesellschaft, in der wir leben wollen.
Doch das Epizentrum des Flächenbrandes ist zweifellos der Mittelmeerraum, der sich im Jahr 2011 vollkommen verändert hat. In Europa sind zwei Regierungen gestürzt: die griechische und die italienische. Schuld daran ist der Druck – der Straße und der Wirtschaft gleichermaßen. Am 21. November 2011 ging Spanien zur Wahl und brachte von Neuem die Konservativen des Partido Popular an die Macht. Auch in Tunesien wurde gewählt, während in Ägypten einmal mehr die Menschen auf die Straße gingen und bei den Protestmärschen Gefahr für Leib und Leben riskierten, nur um die alten Machthaber daran zu hindern, die ersten freien Wahlen für ein neues Parlament und eine neue Verfassung zu
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