Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

September. Fata Morgana

Titel: September. Fata Morgana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Lehr
Vom Netzwerk:
weit wie ich noch niemals zuvor in Bagdad alleine gegangen bin immer mehr verschwindende Dinge (sie verschwinden weil sie mich nichts mehr angehen) ich erreiche den sich auflösenden mächtigen Zuckerwürfel der Zentralbank mit seinen Bewacher-Schatten und MG-Posten eine Mauer aus vier Meter hohen Betonblöcken ist noch nicht durchlässig genug und ihr rot aufgestempeltes
    ROAD CLOSED
    zwingt mir einen Umweg in Richtung Goldmarkt auf in einer Gasse zwischen alten Häusern erscheinen drei Frauen vor mir eine Rothaarige mit einem schmutzigen rothaarigen Kind auf dem Arm und zwei mit schwarzen Kopftüchern und ausdrucksvoll geschminkten Gesichtern die gutmeinend auf mich einreden mich warnen aber es sind nur
    Schattenworte kaum sichtbare
    Dinge ich vergesse das Hören weil Blutbäche
    in meinen Ohren rauschen und das schwarze Licht die Bilder von Dir und Achmed und Hind und Sami in mir mit einer solchen Kraft aufscheinenlässt dass auch der protzige Erz-Mensch auf seinem Dreifachpodest vor dem Säulenhalbrund der Handelskammer verblasst
    bald
    wird hier überhaupt niemand mehr auf Säulen stehen der kein Dichter war und kein guter oder wenigstens für die Allgemeinheit wertvoller Mensch so weit kann ich mit schwarzem Licht in den schwarzen Tunnel der Zukunft sehen
    meine Turnschuhe scheinen enger geworden sie drücken an den Seiten
    etwas in mir (befremdend erschreckend ich will es nicht klar sehen müssen) begrüßt diesen Marsch es will und verlangt ihn erst jetzt wird mir klar weshalb meine Mutter plötzlich mit Jasmin nach Kerbela ging sie musste einfach die Tür aufstoßen und ins Freie treten ihr könnt mich (einzelne schutzlose) Frau anhalten und töten aber um mich anzuhalten
    müsst ihr mich auch töten ich
    gehe
    und vor mir erhebt sich endlich das alte Zentrum für Telekommunikation ein graues Hochhaus in das sie ein Loch geschossen haben man sieht in großer Höhe zwischen Stützpfeilern die wie Lampiondrähte nach außen gezogen sind Menschen umhergehen was gibt es jetzt noch da zu plündern oder räumen sie etwa auf
    breite Straßen große Plätze
    hier marschierten wir etliche Male mit der gesamten Schule und mussten Lieder für Saddam singen Transparente hochhalten und Losungen skandieren die von den Fronten der Hochhaus-Hotels widerhallten (Gott segne seine Arschbacken sang Huda) die Steintafel mit dem zehn Meter hohen Präsidentenporträt ist erhalten geblieben doch hat jemand mit schwarzer Farbe die Augen- und Nasenregion überpinselt hier sieht er nicht mehr was im Irak geschieht und im Fernsehen flucht und schimpft er ohne Ton wird man ihn hängen oder nicht es ist mir egal irgendjemand hat vorgeschlagen ihn am Firdaus-Platz in einen Glaskasten zu setzen und lebenslänglich mit davor gelagerten Tomaten zu bewerfen das wäre doch gut er soll einfach in einer Zelle verrotten (sagt mein Vater) damit wir endlich wieder Kultur beweisen können was würde er sagen
    wenn Jasmin nicht überlebt hätte
    würde Tarik mich jetzt sehen wäre er entsetzt ich weiß es ist ja nur
    nichts anderes mehr möglich es gibt keinen
    Simulator
    mehr es gibt keinen anderen Ort von dem aus ich mir mein Leben vorstellen könnte als diesen hier in
    meiner Haut
    am Tahrir-Platz wechselt ein amerikanischer Panzer unvermittelt die Spur er jagt die rot-weißen Taxis und andere Autos vor sich her wie ein riesiger mythischer Eber ein Rudel Jagdhunde ein kleinerer und schnellerer Panzerwagen überholt ihn und schubst einige Zivilfahrzeuge zur Seite verbeult sie krachend die Fahrer drehen eifrig ab aber hinter den Amerikanern bedrängen und behupen sie sich schon wieder selbst wer eine Sekunde zögert ist verloren und wird abgehängt was
    kümmert es mich
    das Monument der Befreiung
    jene dreißig Meter lange weiße Tafel die wie die Schneide einer gewaltigen Guillotine in die seitlichen Stützmauern gerammt ist
    wurde noch nicht mit Farbe bepinselt oder besprüht die dunklen Relief-Figuren darauf (jener athletische Soldat der das Gitter sprengt und die mit erhobenen Armen Jubelnden) wirken noch schattenhafter und verkohlter wie eingebrannt in den weißen Stein
    erneut jagen Humvees und Panzerfahrzeuge im Kreisverkehr herum und dieses Mal machen alle Autofahrer rechtzeitig Platz als hätten sie etwas gelernt obwohl es doch andere Fahrer sind
    schließe die Augen
    öffne sie
    lass dich nicht aufhalten im schwarzen Licht sind die Konturen der Befreier
    nur Negative
    mit fließenden zerfließenden Rändern auf einem Wagen dreht sich eine

Weitere Kostenlose Bücher