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September. Fata Morgana

Titel: September. Fata Morgana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Lehr
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dass er sich jetzt hier unter all diesen Toten und wimmernden Verletzten befinden müsse du siehst den nackten vollkommen haarlosen Brustkorb einer großen Puppe eine Art gelber Flaum schwebt vorbei du
    kannst die Arme bewegen du spürst deine Finger die Beine
    sind
    beweglich
    es ist wie bei einer Trockenübung für einen (noch unbekannten) Schwimmstil wie bist du überhaupt auf den Boden gekommen und was
    hast du vergessen was vergisst du nur ständig
    direkt neben deiner linken Wange befindet sich ein weiterer Schuh du wagst es dich an den Händen Ellbogen Knien aufzustützen das Pfeifen es lässt nicht nach es schwillt erneut an so
    dass du eine Zeitlang kein menschliches Geräusch hörst bis du eine Welle aus Übelkeit Schwindelgefühl und seltsamerweise Scham überwunden hast und nun auf den Knien Händen mit ausgestreckten Armen nach vorn schaust ein Bein heranziehst wie zum Start für einen Lauf
    um was
    du dich alles kümmern musst! deine Hand (nach dem Aufstehen was hast du vergessen) spürt deinen unverletzten Bauch geradeaus durch die Trümmer die Ascheschichten den zerfetzten Marktkarren dort war
    etwas
    sie
    kamen doch auf dich zu in deinem Rücken
    sind Menschen viele Menschen jetzt die noch näher kommen hilfsbereite Menschen die du fühlst Jasmin und Farida müssten dort
    du fühlst diese Menschen wie einen großen Mantel der dir über die Schultern gelegt wird etwas Tröstliches Weites Ruhiges du wirst jetzt
    geradeaus gehen
    in diese Richtung du
    hebst jetzt den Kopf und siehst jetzt die
    zweite Explosion
     
    Wiederkehr
     
    Zerschlage mich, mein Körper flieht
    in einen Spiegel, mein Gesicht
    tanzt auf der Welle,
    fließt in Scherben.
    Ich atme nicht.
     
    Leicht gehe ich, leicht kehr ich wieder,
    leicht füge ich mich,
    Kreis um Kreis
    im Glas des tiefsten aller Meere,
    des Sees, auf dem ein jedes Bild
    erneut erscheint
    und bleibt.

 
    EPILOG
    September 2004
     
    Du brauchst nicht mehr
    zu erwachen
    das ist eine ungeheure Erleichterung so wie Du nie wieder müde wirst
    was Du noch kennst (anstelle von Aktivität und Schlaf) ist vielleicht nur ein Flackern der Aufmerksamkeit oder des Grades des Vorhandenseins an einem bestimmten Ort oder zu verschiedenen Orten und Zeiten
    wohin man Dich verbracht hat oder Du steuerst alles nach Belieben (aber wäre es dann eine Erlösung) vielleicht
    bist Du immer noch da
    nur mit einer fragilen gleichsam drucklosen Präsenz Du kannst Dir eine solche Daseinsweise besser vorstellen indem Du sie in den äußeren Dingen spiegelst indem Du die scheinbare Festigkeit und Massivität gleichsam den optischen Aggregatzustand der Dinge einmal
    minderst
    bis an die Grenze zur Durchsichtigkeit (im Falle Deiner Abwesenheit)
    einmal übersteigerst (wenn Du wiederkehrst) zu einer so perfekten atemberaubenden strahlenden unumstößlichen Gegenwärtigkeit als bestünde die ganze Welt aus Metallen unfassbarer Schwere und unerträglichen Glanzes man glaubte dann keinen einzigen Ort mehr verlassen zu können infolge seiner vernichtenden Anziehungskraft
    die Gegenwart
    noch der flüchtigste und frischeste Moment wird uralt und brüchig unter Deinem Blick es ist dieser (unvorstellbare) Abstand mit dem Du sie betrachtest der Oberkörper eines neben Dir schlafenden Menschen von dem die Decke herabgeglitten ist erscheint Dir wie der Torso einer vieltausendjährigen Statue durchzogen von Rissen und Sprüngen die Haut (eine Kalk-Lehm-Schicht) wie der Boden eines von der Sonne verdampftenSees ein Mosaik von feinsten Scherben ein hoch kompliziertes Puzzle das in einem Sekundenbruchteil zusammenzusetzen Dir Dein ungeahnter neuer Zustand ermöglicht
    hinter dem Glas einer hohen Vitrine
    die armlose Statue einer Frau
    das ist konkret
    große mandelförmige blinde Steine in ihren Augenhöhlen lassen sie vergeblich in unsere Zeit starren und ihr Schrei entsteht erst gar nicht denn unter ihrer schwach ausgeprägten Nase gibt es keinen Mund (als hätte man so diese Sekundenbruchteile modelliert die keine Zeit mehr ließen die Lungen mit Luft zu füllen)
    wegen dieser Schädel (echte Menschenschädel) die man mit Lehm überformt und bemalt hat und mit steinernen Augen versah für einen entsetzten ewigen Blick stürzte ich wieder zurück in jene Tage in Manhattan zu den mit den Schärpen der Sicherheitsgurte markierten Torsos auf der World-Trade-Center-Plaza
    wenn Du es jetzt sähest dann womöglich nur noch mit einem abwesenden Blick
    so dass die ganze Stadt gläsern erschiene oder

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