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September. Fata Morgana

Titel: September. Fata Morgana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Lehr
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fünfjährige Muna auf die Straße (sie war nicht aufgewacht und atmete mir ruhig ins Ohr) die Sirenen heulten nach der dritten Explosion allmählich los aber wir waren doch noch weit weg von den Einschlägen
    worüber sollen wir uns beschweren
    vielleicht über das Ausmaß der Zerstörungen und die Präzisionsmängel der Präzisionswaffen wir könnten die Frage stellen weshalb so viele Schulen und Krankenhäuser getroffen wurden und weshalb Zehntausende von Zivilisten starben weshalb man es für nötig befand schon in den ersten beiden Wochen des Luftkriegs mehr Bomben abzuwerfen als die Alliierten im gesamten Zweiten Weltkrieg vielleicht könnte man von einem unendlich selbstgerechten Hass des von vornherein ausgemachten Siegers sprechen der wohl auf Aussagen gewartet hat wie die unendlich grausame lauthals verkündete Hoffnung unseres PRÄSIDENTEN auf einen so blutigen Bodenkrieg dass ihn die zimperlichen westlichen Regierungen nicht ertragen würden im Gegensatz zum
    ausblutungswilligen ausblutungsstarken
    irakischen Volk
    wenn in einer Kriegswoche 150 000 irakische Soldaten fallen und 376 Alliierte (die Letzteren hauptsächlich durch Unfälle) dann taucht die Frage der Grausamkeit vielleicht noch einmal auf die durch vernebelte gemaßregelte kontrollierte arretierte Journalisten der
    FREIEN WELT
    erst lauter gestellt wurde als auf dem
    Highway des Todes jener schnurgeraden Straße nach Kuwait
    auf der auch die beiden Söhne meines alten Englischlehrers/Gewürzhändlers in der gleichen Sekunde zu Asche wurden
    von laufenden internationalen TV-Kameras (versehentlich) ein
    Luftschlachthaus
    bei der Arbeit bestaunt werden konnte weswegen dann der Abbruch der Operation Zerstörung der irakischen Armee auf der Flucht allmählich geboten schien aber für uns die seit zehn Jahren in unserem Fleisch brennende und weitermordende Frage offenblieb weshalb man nach so vielen Opfern uns nicht auch von unserem PRÄSIDENTEN befreit hatte (plötzlich aufgekommene Stabilitätserwägungen Berücksichtigung deröffentlichen Meinung jäher Gedanke an die Möglichkeit einer Machtstärkung der iranischen Mullahs …) was doch ein Leichtes gewesen wäre glaubt man den Aussagen etlicher US-Generäle
    nach 42 Tagen Krieg
    auf dem Leichenberg von 200 000 oder 250 000 Irakern
    hatte unser PRÄSIDENT nun
    schon wieder
    GEWONNEN
    wirsehenunserenSiegalshistorisches
    DuellnichtalsKampfzwischeneiner
    Armeeundverschiedenenanderen
    undihrseidsiegreichweilihrEin-
    schüchterungundUnterdrückung
    zurückgewiesenhabt
    der alte Englischlehrer sitzt immer noch auf seinem Stuhl vor meinem Praxis-Schreibtisch und erzählt von seinen Söhnen während sein Enkel dem ich etwas heiße Watte getränkt mit ätherischem Öl ins Ohr gestopft habe enerviert auf meinen durch Regungslosigkeit stromsparenden Deckenventilator starrt
    ich bin immer in Bagdad geblieben (denke ich plötzlich) weil hier die Menschen miteinander reden so könnte man es im Nachhinein begründen aber damals stellte ich einfach an einem gewissen Punkt fest dass ich es wieder einmal versäumt hatte zu fliehen mich dem großen
    brain drain
    anzuschließen der Tausende von Ärzten Lehrern Wissenschaftlern aus dem Land gespült hatte ich war wohl zu langsam gewesen ich weiß es nicht einmal mehr so genau weshalb wir geblieben sind ich erinnere mich nur dass ich damals hin- und hergerissen zwischen Angst und Wut auf jedermann wie ein verwirrtes Kamel auf dem schwarz verbrannten Wüstenboden zwischen den Riesenfackeln brennender Ölbohrlöcher durchs Leben taumelte ausgelaugt von Tages- und Nachtschichten zu denen ich dienstverpflichtet worden war und schon
    hatte ich wieder einen Krieg mit-gewonnen und meldete meine beiden jüngeren Kinder auf den ramponierten Schulen von Embargoland an mit irgendeiner Art von Trauer und Stolz
    wenn die SCHURKEN so litten wie wir litten
    dann musste ich bleiben
    wenigstens
    als Arzt
     
    Perspektive
    Für Fadhil al-Azzawi
     
    Einem Storch fiel ich aus dem Schnabel,
    hoch über Bagdad.
    Mit meinem Vater ging ich nach Babylon.
    Meine Mutter brachte mich nach Nadschaf.
    Ich floh den Turm und die Moschee,
    den Rachen des Löwen und das Feuer des Islam.
    Brennend wurde ich gefressen,
    von einem alten geflügelten Ungeheuer.

 
    Martin
     
    Das Blau
    am Morgen es
    ist fast ein Jahr her es ist wieder
    September
    das Ende eines Sommers das wolkenlose Blau schneidet durch die Vorhänge nein dringt durch einen senkrechten Spalt dazwischen es ist natürlich nicht das

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