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September. Fata Morgana

Titel: September. Fata Morgana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Lehr
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mehr weiterkam keinen Empfang hatte zu erregt war um weiter gleichzeitig zu fahren und zu telefonieren immer wieder Bildschirme Radiostimmen Flugzeuge leicht wie Schatten in Hochhaustürme wie in dünne Aluminiumsäulen stoßend erbrochene riesige Feuerbälle Staus Sperren Unfälle ahnungslose Leute dazwischen Telefonzellen an Restaurants Tankstellen Malls um vielleicht weiter zukommen als mit meinem mobile ich habe nur dieses wahnsinnig machende
    SIE SIND DA DRIN
    und wusste doch schon dass es jenes DA nicht mehr gab (sein letztes Zeichen und Denkmal jene von Millionen von Papierfetzen und leichten Trümmern nachgezeichneten Kuben die zerrissenen Seelen der Türme weiß nachflimmernd) ich konnte Seymour zunächst nicht mehr erreichen die Mobilfunknetze im Financial District waren zusammengebrochen ich kannte Eric nicht ich traf Mrs Donally nicht an ich hatte zwei Nummern von Amandas Kolleginnen die ebenso wenig antworteten wie sie ich stieß nur auf Besetztzeichen anspringende Anrufbeantworter Mailboxen synthetische Stimmen die mich in Warteschleifen stellten unmittelbar vor dem tiefsten Abgrund
    SIE SIND DA DRIN
    wochenlang hatte ich Seymours fürchterlichen Satz im Kopf und er endet nicht verlässt mich nicht dieser Satz
    ausgesprochen um 10:06 Uhr auf dem Broadway mit Blick auf die getroffenen Zwillingstürme eine Minute vor dem Einsturz des Südturms Seymour hatte aufgelegt bevor er loslief um gleich darauf zu erstarren
    zehn Sekunden lang
    das Niedergehen einer Lawine völlig irrsinnig ein Ereignis aus einem völlig anderen (geologischen, alpinen) Zusammenhang
    eine turmhohe Wolke raste auf ihn zu an den Rändern wie fehlerhaft oder blödsinnig tricktechnisch begrenzt von den harten vertikalen Linien der Hochhäuserblocks dann aber schon
    Goyas Titan
    genau über dir der dich
    zertritt
    nein seltsamerweise nur versetzt in
    eine ohrenbetäubend rauschende graue und weiße Welt aus der Figuren aus Rauch und Asche stolpern sich erbrechen zu Boden stürzen wie in einen Schaum aus Trümmern so leicht als könnten dich diese zerfetzten scharfkantigen Objekte nicht schneiden als müssten alle die du suchst dir im nächsten Augenblick entgegentaumeln wie diese hustend speiend schreiend aus der Wolke geborenen Banker Hausfrauen Polizisten jemand zerrte ihn in einen Laden schloss die Glastür geradenoch rechtzeitig bevor die nächste Wolkenfront (schwärzer höher eine mit Trümmerteilen gespickte Gewitterladung) heranraste und er wurde schlagartig in die Nacht versetzt zusammen mit fünfzehn Menschen in einem engen Drugstore von Neonröhren angestrahlt wie Fische in einem Aquarium und
    so sind sie immer noch da drin in uns wie in einem leuchtenden inneren Aquarium eingeschlossen Amanda Sabrina dem sie nicht entrinnen können das wir mit unserem Fleisch unserer Haut schützen mit unserem letzten
    Leben Seymour
    ich schaffte es nicht bis nach Manhattan in dieser Nacht ich stand in New Jersey neben meinem Wagen sank nach Stunden in der Dunkelheit auf einem Promenadenweg zu Boden saß an den Vorderreifen gelehnt und starrte über den Hudson weit rechts hätten die Türme stehen müssen ein Konglomerat nur aus Rauch flach züngelndem Licht brodelnder Nacht aufsteigender Wolkentinte das an die glühenden Fensterzeilen der Häusermassive anschloss unter dem flugleeren fahlen Himmel über ganz Amerika dieses komplett ausgeräumte obere Stockwerk ein Himmel wie zu
    Goethes Zeit
    es war plötzlich nur noch ein
    Sich-nicht-mehr-aufrecht-halten-Können
    als wäre das mein einziges Problem gewesen ein Polizist sprach mich an ich fuhr den Wagen auf einen Randstreifen und erzählte wohl etwas über Sabrina denn er brachte mir einen Becher Kaffee und notierte sich nichts heute wüsste ich gerne seinen Namen so viele Leute treffen sich im Nachhinein um gemeinsam in die Vergangenheit zu starren auf den blendend hellen Schild eines wahnsinnigen Tags der auch in der hundertsten Wiederholung und unter dem Druck von Millionen und Abermillionen Blicken keinen Millimeter nachgeben und nichts von seiner gnadenlos heiteren stählernen Bläue verlieren wird
    aber es war schon Nacht ich fror oder zitterte so stark dass ich mich wieder ins Auto setzte und von dort weiter in die Dunkelheit starrte bis sie allmählich durchsichtig wurde als hätte ich gewonnen als könnten die Türme nun wieder auferstehen in jener langgezogenen vertikalen Rauchsäule jener erst schwarze und ölig dichte dann immer hellere undfeinere Rauch den man noch Monate später

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