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September. Fata Morgana

Titel: September. Fata Morgana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Lehr
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unversehrt vor dem Himmel glänzen nur noch als Strünke dastehen erneut über Manhattan thronen wieder in die Straßen hinabschäumen
    du berührst
    es nicht
    in deinem Holzhaus in Amherst 150 Meilen nördlich von New York City inmitten deines schon gar nicht mehr vorhandenen Lebens starrst du auf den Bildschirm inmitten deines Wohnzimmers das es schon gar nicht mehr gibt das schon weggeflogen weggebrochen ist wie die Zwillingstürme das du ebenso wenig berühren kannst
    wie noch einmal ihre Wange ihr Haar
    die grüne Ledercouch der Tisch mit den Zeitschriften die Regale die Bücher und Pflanzen sprenge dein Arbeitszimmer das nur noch als Bild vor deinen Augen flimmert deinen Schreibtisch auf den du eine zitternde Hand legst wie auf ein Kissen aus (eingebildeten)
    Elektronen
    Martin Lechner: Goethe lieben
    weiße Asche in zweihundertfünfzig Bögen ich wünschte es wäre ein
    einziger Atemzug von Dir
    der alles verweht hätte jetzt denn dann wärst Du
    an meiner Seite wieder an meiner Seite
    Hafis mein Freund den ich mir aus der Verzweiflung erschaffe in der Aufspaltung meiner Trauer der Trennung meines Gehirns von meinem Herzen ich betrachte das Haus das untere Stockwerk des Hauses als
    gesprengt
    ich sah mit bleiernem Gehirn das mir schier die Augen aus den Höhlen presste immer wieder
    und ich dachte nicht ich sah nur wieder und wieder
    und wieder
    die Endlosschleife des Untergangs

 
II. Die Türme
     
    September 2002
     
    Wenn dein Mütterlein
    Tritt zur Tür herein
    Und den Kopf ich drehe,
    Ihr entgegensehe,
    Fällt auf ihr Gesicht
    Erst der Blick mir nicht,
    Sondern auf die Stelle
    Näher nach der Schwelle,
    Dort wo würde dein
    Lieb Gesichtchen sein,
    Wenn du freudenhelle
    Trätest mit herein
    Wie sonst, mein Töchterlein,
     
    O du, der Vaterzelle
    Zu schnelle
    Erloschner Freudenschein!
     
    (Friedrich Rückert, Kindertotenlieder , 1833)
     
     
    New York
    Eine Frau – die Statue einer Frau,
    in einer Hand hält sie den Fetzen, der Freiheit genannt wird,
    das Stück Papier, das wir Geschichte nennen,
    und mit der anderen Hand erwürgt sie ein Kind, das Erde heißt.
     
    (Adonis, Ein Grab für New York , 1971)

 
    Tarik
     
    Du ziehst eine Linie mein Freund die
    stärkste Linie
    die Grenzhaut die letzte und undurchdringliche
    Mattscheibe zwischen dem tatsächlichen Geschehen und dir (der allerhöchsten Tatsache) ich komme immer wieder an diese Grenze in manchen Wochen jeden Tag sie verläuft
    mitten durch mein Geschäft
    in der Saadun-Straße gehört mir eines der Arztpraxenschilder die in vier Reihen übereinander dicht gestapelt und eng beschriftet wie die Frontseite einer Ladung wieder einmal nicht eingetroffener Medikamentenkartons den Betrachter mit der Hoffnung verwirren ihm könne auf jeden Fall geholfen werden und kartonähnlich ist auch meine Behandlungsschachtel in einem Siebziger-Jahre-Betonbau in dessen Treppenhaus die Leute Schlange stehen sofern sie nicht erschöpft am Boden kauern oder liegen
    die Linie die Grenze ist hauchdünn nur eine
    Membran hinter der sich
    die nackten Heere der Toten drängen (der jüngst Verstorbenen nehme ich an während die anderen sich schon abgewendet haben da sie die Aussichtslosigkeit ihres Rückkehrwunsches einsehen mussten und sich auf den Weg in die ferneren Abgründe machten)
    aber sie ist doch auch die
    stärkste Trennung die wichtigste jene die das Leben der Toten zum Spiel macht zum Spielfilm den wir gnadenlos und immer verworrener und blasser wiederholen ohne sie je
    zu erwecken
    du bleibst hier: vor einer Mutter die dir ein gelbgesichtiges vierjährigesMädchen auf die Pritsche setzt dessen dunkler Blick panisch an allem abgleitet als rutschte sänke glitte es immer tiefer hinab ganz gleich wo es sich befindet und dessen aufgequollener Bauch dir Leber- und Milzschwellungen verrät die es in drei oder vier Monaten auf die andere Seite der Grenze befördern werden ich kann sie nur ins staatliche Saddam-Hospital schicken wo man aber mit höchster Wahrscheinlichkeit nur tun kann was ich jetzt schon machen könnte nämlich der Mutter einen Zettel reichen auf dem in arabischer und lateinischer Schrift PENTOSTAM steht auf dass sie sich wie so viele andere mit ähnlichen Schildern und Zetteln auf den Straßen vor den Hotels bei den heruntergekommenen Kliniken oder Ambulanzen postiert in der Hoffnung auf einen Schmuggler eine korrupte Krankenschwester einen gnädigen oder kriminellen Arzt mit stiller Reserve einen Engel oder einen zufällig vorbeikommenden

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