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Serafinas später Sieg

Serafinas später Sieg

Titel: Serafinas später Sieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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allein.
    Die Arbeitsräume des Arztes lagen der Küche gegenüber auf der anderen Seite des Innenhofs. Serafina klopfte an, der Arzt öffnete und ließ sie ein.
    »Nun, meine kleine Serafina«, sagte er, als sie das Glas auf den Tisch stellte, »wie gefällt dir mein Reich?«
    Seit Wochen hatte sie kaum ein Wort gesprochen, und jetzt war sie sprachlos. Schließlich brachte sie ein gestammeltes »Sehr gut, Herr« hervor, während ihre Augen den Raum in sich aufnahmen. Er war groß, mit hoher Decke und kleinen, weit oben eingesetzten Fenstern. An einem Ende ragten drei Ofen in die Höhe, deren Brausen und Zischen so beängstigend war wie die Jins in Serafinas Vorstellung. Der orangefarbene Feuerschein beleuchtete Flaschen verschiedenster Größen und Kräuterbündel, die an Dachbalken hingen. Voller Entsetzen betrachtete Serafina den Knochenhaufen in einer Ecke, bei dem sich auch ein Menschenschädel mit gähnenden Augenhöhlen befand. Und die Bücher! Mehr Bücher als in Franco Guardis Bibliothek in Marseille, mehr als in der Kanzlei des Notars. Sie bedeckten eine ganze Wand, lagen verstreut auf dem großen Tisch – manche offen, mit einem Federkiel und Papier daneben, andere geschlossen und verstaubt.
    Der Arzt folgte ihrem Blick und lachte. »Es ist ziemlich unordentlich hier, nicht wahr, Serafina? Wenn du magst, kannst du ein bißchen Ordnung in das Durcheinander bringen. Hier ist ein Tuch – staub die Bücher ab, und stell sie in die Regale zurück. Aber geh sorgsam damit um.«
    Sie nahm das Tuch, wischte sorgfältig ein Buch nach dem anderen ab und räumte sie ab. Und dann sah sie in einem aufgeschlagenen Buch ein Bild, das ihr einen leisen Schreckensschrei entlockte.
    Kara Ali wandte sich ihr zu. »Was ist, Kleines?«
    Sie deutete auf das Bild: »Ein Jin, Herr!«
    Er lächelte. »Das ist kein Jin, Serafina – das ist ein Elefant«, erklärte er belustigt. »Es ist zwar ein wundervolles Tier, aber kein magisches Wesen. Ein Dram pulverisiertes Elfenbein vom Stoßzahn des Elefanten lindert die Beschwerden der Lepra, und wenn man sich ein Stück Elefantenhaut an den Körper bindet, wirkt sie gegen Schüttelfrost. Dieses Buch ist das Tierlexikon von Ibn Bakhtishu, einem berühmten Arzt, der vor langer Zeit lebte. Schau her.« Er blätterte langsam weiter und zeigte Serafina Bilder vom Löwen, dem Bären und dem Simurgh, dem sagenhaften persischen Riesenvogel, der aussah, als könne er den Elefanten in seinen Fängen davontragen.
    »Ein schönes Buch«, sagte Serafina ehrfürchtig.
    »Ein sehr schönes Buch«, stimmte Kara Ali zu, »und außerdem ein überaus nützliches. Es enthält Berichte über die Tiere und die medizinische Hilfe, die sie dem Menschen geben können. Auch das hier«, er zog ein größeres Buch ohne Bilder heran, »ist ein äußerst wichtiges Werk – aber ich kann die Buchstaben nur noch mit Mühe entziffern, meine Sehkraft hat stark nachgelassen.«
    »Irrwege der Ärzte«, las Serafina laut, und machte sich, als Kara Ali nichts dazu sagte, wieder ans Staubwischen. Sie merkte nicht, daß ihr Herr sie anstarrte – sie hörte ihn nur leise fragen: »Du kannst lesen, Kleines?«
    Sie nickte und stellte ein Buch ins Regal. Natürlich konnte sie lesen! Hatte sie jemals nicht lesen können?
    »Und schreiben auch?«
    Wieder nickte Serafina. Monsieur Coniques hatte ihr das Schreiben beigebracht – und großen Wert auf ein schönes Schriftbild gelegt.
    »Wie ist es mit Rechnen?«
    Zahlen waren immer wie Spielzeug für sie gewesen, es hatte ihr stets großes Vergnügen bereitet, mit ihnen zu jonglieren. »Ja, Herr«, antwortete sie.
    Kara Ali musterte sie nachdenklich. Der Feuerschein betonte die riefen Furchen, die das Alter in sein gütiges Gesicht gegraben hatte. »Setz dich, Serafina«, forderte er sie schließlich auf, und sie kletterte auf einen Hocker, der sie fast auf gleiche Höhe mit ihm brachte.
    Wieder schwieg er eine Weile, dann fuhr er fort: »Ich habe nur fünfzig Asper für dich bezahlen müssen, weil man dich für kränklich, geistesschwach und von niederer Geburt hielt. Aber jetzt bist du gesund, ganz offensichtlich nicht geistesschwach und zweifellos aus gutem Hause. Erzähle mir von dir, Kind.«
    Und sie erzählte. Von Marseille und dem Guardi-Tuchhandel und danach, zur Begleitmusik des Ofenbrausens und des heulenden Windes draußen, von ihrem Vater. Als sie geendet hatte, trank der Arzt seinen Scherbett aus, stellte das Glas auf den Tisch zurück und sagte: »Die Korsaren, die eure

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