Serenade für Nadja
Tagen habe ich mich bei dem Versuch ertappt, für Ahmet Verständnis aufzubringen. Nein, es ist sogar so, dass ich ihn tatsächlich verstehe. Er hat Probleme wie jeder andere auch. Und sowohl mich als auch Kerem hat er immer geliebt. Dass es zwischen uns auseinanderging, hat wohl auch mit meiner Unverträglichkeit zu tun.
Wer unverträglich ist, gibt dies unter keinen Umständen zu. Um das zu erkennen, muss man sich schon geändert haben.
Aus ihrer Unsicherheit heraus hat die alte Maya immer versucht, der harten Welt da draußen die Zähne zu zeigen, um nur ja nicht angreifbar zu sein. Jahrelang habe ich an Kerem herumkritisiert, dabei war ich ein Kontrollfreak, der jeden Augenblick seines Lebens und sein ganzes Umfeld im Griff haben wollte. Das Leben besteht aber aus vielen Verzweigungen, und jeder Mensch muss selbst wissen, welchen Weg er beschreiten will.
Genüsslich zünde ich mir eine Zigarette an. Während ich diese Zeilen schreibe, schaue ich immer wieder stolz auf mein Werk. Auf dem Deckblatt steht:
MIMESIS:
DARGESTELLTE WIRKLICHKEIT
IN DER ABENDLÄNDISCHEN LITERATUR
Übersetzt von Maya Duran
Und auf der zweiten Seite heißt es:
Diese Übersetzung widme ich dem hochverehrten Professor Maximilian Wagner und seiner geliebten Frau Nadja Katharina Wagner, durch die ich nicht nur dieses bedeutende Buch entdeckt habe, sondern auch die Fähigkeit, im Leben das Gute vom Bösen zu unterscheiden. Mögen sie in ihrem Seegrab in Frieden ruhen.
Nach monatelanger Arbeit habe ich neben der Übersetzung auch das Buch fertiggestellt, das Spuren aus dem Leben von Max, Nadja, Mari und Maya in sich trägt und mit diesem Epilog sein Ende findet.
Selbst an den letzten Sätzen, die ich unter den ungeduldigen Blicken Renatas schnell noch hinwarf, werde ich nichts mehr ändern, denn es geht mir dabei nicht um Perfektion, sondern ich wollte mein Herz ausschütten, etwas bekennen, so dass mir eine Überarbeitung und eine Tilgung von Fehlern nicht nötig erscheint. So werde ich auch den Verlag – so ich denn einen finde – darum bitten, nicht an den Text zu rühren, so unbeholfen und fehlerhaft er auch sein mag.
Voranstellen würde ich dem Buch gerne ein Zitat aus Paul Valérys berühmtem Gedicht Der Friedhof am Meer , aber ganz sicher bin ich mir noch nicht. Mal sehen. Ich werde nach Stimmungslage entscheiden.
Als ich das Buch schrieb, waren fast alle Menschen, die darin eine Hauptrolle spielen, längst tot. Nur Maximilian und ich waren noch am Leben. Jetzt bin ich allein, denn auch Maximilian ist gestorben.
Als ich am Bostoner Flughafen endlich durch alle Kontrollen war, fuhr ich sofort zum Krankenhaus, ohne auch nur vorher meinen Koffer im Hotel zu deponieren.
Ich hätte nicht gedacht, dass ich so leicht ins Krankenhaus hinein kommen würde. Normalerweise wurde man vermutlich außerhalb der Besuchszeiten abgewiesen, aber dass ich aus Istanbul kam und mit meinem Koffer so aufgelöst dastand, musste das Personal wohl erweicht haben, so dass ich wenige Minuten später in Maximilians Krankenzimmer trat.
Maximilian sah bleich und dünn aus, doch spürte ich beim Anblick seines ebenmäßigen, feinen Gesichts wieder ganz intensiv, wie sehr er mir gefehlt hatte. Dieses Gesicht hatte etwas zutiefst Menschliches, das in einem Mitleid und Hochachtung weckte. Seine Augen funkelten, als er mich sah. Trotz seines Zustandsversuchte er sich im Bett aufzurichten. Ich ging zu ihm, drückte ihn sanft zurück und küsste ihn auf die Wange.
»Nancy hat mir schon angekündigt, dass Sie kommen. Ich habe gesagt, sie braucht doch nicht bis hierherzufliegen, aber das stimmte nicht. Ich wollte unbedingt, dass Sie kommen. Ein letztes Wiedersehen …«
»Ein letztes?«
»Ja. Wir brauchen uns nichts vorzumachen. Ich sterbe bald, das heißt, in gewisser Weise geht mein Leiden zu Ende. Aber das wird Ihnen nicht neu sein, Sie haben es schon in Istanbul erfahren.«
»Aber nein, Sie haben mir gar nichts gesagt.«
Er lächelte.
»Ich mag naiv sein, Maya, aber so naiv denn auch wieder nicht. Glauben Sie etwa, ich hätte nicht gemerkt, wie anders Sie nach meinem Aufenthalt im Krankenhaus auf einmal zu mir waren?«
»Ach, lassen wir das jetzt, Herr Professor«, sagte ich und verbesserte mich sogleich: »Ich meine, Max … Ich habe Ihnen ein paar Erinnerungsstücke mitgebracht. Die werden aber wohl alte Wunden aufreißen.«
»Erinnerungsstücke?«
»Ja. An Nadja.«
Da wurde er noch bleicher.
Ich setzte mich auf den Bettrand, holte die in
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