Serenade für Nadja
bei, und auf dem stand zu meiner Überraschung »Kerem Baltacı«. Da er nicht zugeklebt war, entnahm ich ihm den Brief, der mit »Dear Kerem« begann. Maximilian schrieb darin, wie froh er sei, Kerems Bekanntschaft gemacht zu haben, und dass er Kerem die Geige gerne zum Geschenk machen wolle. Es würde ihn freuen, wenn ein »sichtlich talentierter junger Mann« das Geigenspiel erlerne und dem Instrument, das er achtzig Jahre mit sich geführt habe, neues Leben einhauche. Auf Türkisch stand darunter:
Max
Der größte Agent
Als ich das las, entrang sich mir eine seltsame Mischung aus Schluchzen und Lachen.
»Ach Max. Lieber Max.«
Das Krächzen, das an mein Ohr dringt, ist ein schlagender Beweis dafür, dass Kerem gerade wieder Maximilians Geige malträtiert.
Wir haben in Bodrum eine Geigenlehrerin für ihn gefunden, eine Holländerin, die mit einem hiesigen Bootsverleiher verheiratet ist. Kerem kann wirklich von Glück reden, dass er sowohl diese Lehrerin als auch die wertvolle alte Geige hat.
Durch den Brief Maximilians hat er ein Selbstvertrauen entwickelt, das weder ich noch sein Vater ihm irgendwie hätten verschaffen können. Seit er den Brief und die Geige bekommen hat, bewegt er sich anders und sieht einen mit anderen Blicken an. Das Geschenk des »größten Agenten« hat ihm neue Perspektiven eröffnet. Er redet auf einmal davon, dass er ans Konservatorium will, und übt zum Leidwesen seiner Umgebung Tag und Nacht.
Zwei Tage nach Maximilians Tod nahm ich an den beiden Trauerfeiern teil, die an der Universität und danach im Krematorium stattfanden. Im Audimax der Universität wurde Maximilians in ergreifenden Worten gedacht. Kollegen erinnerten an seine wissenschaftliche Bedeutung und erzählten Anekdoten aus seinem Leben.
Mich hatten sie kurzerhand mit auf die Rednerliste gesetzt. Unter meinem Namen stand Universität Istanbul. Dass ich entlassen worden war, hatte Maximilian nicht mehr erfahren.
So stellte ich mich denn ans Rednerpult.
»Den Worten, die hier von Freunden und Kollegen Professor Wagners gesagt wurden, habe ich eigentlich nichts hinzuzufügen«, begann ich. »Ich möchte lediglich, wenn Sie über mein wackeliges Englisch hinwegsehen, kurz auf die Zeit eingehen, die unser verehrter Professor in Istanbul verbracht hat. Nach seinem Aufenthalt dort von 1939 bis 1942 hat er die Stadt letzten Monat wieder besucht, wodurch mir die Gelegenheit zuteilwurde, mit so einer außergewöhnlichen Persönlichkeit Bekanntschaft zu schließen. Darüberhinaus habe ich vieles über die Arbeit jener Professoren erfahren, die nach ihrer Flucht aus Nazideutschland an der Universität Istanbul Dienst taten.« Wenn man vor einer aufmerksam schweigenden Zuhörerschaft spricht, misst man den eigenen Worten gleich mehr Bedeutung bei. Jedenfalls merkte ich, wie meine Stimme leicht zitterte. Ich sprach aber unverdrossen weiter. »In dem Vortrag, den Professor Wagner an unserer Universität gehalten hat, sowie in persönlichen Gesprächen ist er auf ein wichtiges Thema eingegangen. Er hat Professor Huntingtons Begriff des ›Kampfes der Kulturen‹ und Edward Saids ›Kampf der Ignoranz‹ durch den Begriff ›Kampf der Vorurteile‹ ergänzt. Die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, die von vorurteilsbeladenen Gesellschaften ausgelöst wurde, hat er nämlich am eigenen Leib erlebt und dabei unsägliches Leid erfahren.« Ich machte eine kurze Pause und horchte in die Stille hinein. »Ich verneige mich im Angedenken an diesen großen Menschen und möchte in seinem Namen an jemanden erinnern, der ihm sehr viel bedeutete, nämlich an seine geliebte Frau Nadja Katharina Wagner. Die Liebe dieses deutsch-jüdischen Paares war ein menschliches Band, das stärker war als alle Vorurteile der Welt. Mögen die beiden uns ein leuchtendes Vorbild sein.«
Nach der Feier kamen etliche Menschen auf mich zu und gratulierten mir zu meiner Rede. Vermutlich wunderten sie sich, dergleichen von einer muslimischen Frau zu hören. Denn so wiewir einen Nigerianer nicht von einem Senegalesen unterscheiden und einen Malier nicht von einem Namibier, und wie Koreaner, Chinesen und Kambodschaner für uns allesamt irgendwie Asiaten sind, so steckt man auch im Westen Türken, Araber, Iraner und Afghanen in einen Sack und sieht sie als Muslime, die alle den gleichen kulturellen Hintergrund haben.
Im Krematorium fanden sich etwa fünfzig Personen ein. Obwohl Maximilian Katholik war, hatte er keine religiöse Feier gewünscht. Auf die marmorne
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