Serenade für Nadja
versuchen. Und nur ihnen darf man zutrauen, dass sie tatsächlich für eine bessere Welt kämpfen. Nur sie haben das Recht, das Unmögliche zu fordern und für ein Leben zu kämpfen, das unter den jetzigen Bedingungen nicht gelebt werden kann.
Auch die Vater-Sohn-Beziehung in dem Film berührte mich. Als an jenem Abend Kerem nach Hause kam und ich ihn fest umarmte, fragte ich mich, ob ich nicht noch unter der Einwirkung des Filmes stand.
Dabei liebte ich Kerem und bemühte mich um ihn. Wenn er Fieber hatte, wachte ich an seinem Bett, ohne ein Auge zuzutun, und mit seinen Pubertätsproblemen schlug ich mich auch herum, so gut es ging. Ich versuchte ihm Vater und Mutter zugleich zu sein.
Als ich ihn nun bat, mir beim Essenmachen zu helfen, schaltete er nicht einmal seinen Computer an. Eine echte Hilfe war er mir nicht gerade, doch genoss ich es, ihn in der Küche neben mir zu haben. Es war schön, ihn so zu sehen. Das monotone Leben, das wir geführt hatten, war eben auch ihm eine Last gewesen, und die Veränderung hatte ihm gutgetan.
Ganz nebenbei erfuhr ich, dass Ahmets neue Freundin Lale immer öfter bei ihm war und sogar schon von Heirat gesprochen wurde. Ahmet hatte Kerem bereits offiziell eingeweiht. Nicht dass mich das in irgendeiner Weise eifersüchtig gemacht hätte, ganz im Gegenteil, ich freute mich sogar. Mir tat nur die arme Lale leid, die noch nicht wusste, was auf sie zukam.
Ebenfalls freute mich, dass Kerem am Abend bei mir bleiben wollte. Wir schliefen wieder unter einem Dach. Am nächsten Morgen stellte ich ihm seine geliebten Cornflakes hin, band ihm den Schal fest um den Hals und brachte ihn in die Schule.
Dann fuhr ich in das Büro der SAD, wo mich Levent Yüksel und seine drei Taucherkollegen begrüßten. Ich sagte ihnengleich, wie aufgeregt ich sei, Neues über die Struma zu erfahren, und erklärte ihnen auch, warum.
Als ich sie fragte, ob sie so ohne weiteres die Erlaubnis bekommen hätten, nach dem Schiff zu tauchen, sahen sie sich schmunzelnd an. Sie hatten nämlich jahrelang darum kämpfen müssen.
An der Stelle, an der die Struma gesunken war, verfingen sich oft Fischernetze an einem Wrack, das von den Fischern der Gegend das »Judenschiff« genannt wurde. Das Team der SAD war sich nach langer Quellenforschung sicher, dass das Unglück tatsächlich dort geschehen sein musste. Sie ließen sich von den Fischern zeigen, wo die Probleme mit den Netzen auftraten, und nahmen daraufhin eine Sonar-Ortung vor.
Es befanden sich in der fraglichen Zone ingesamt drei Wracks, die bei Tauchgängen näher untersucht wurden. Wegen der geringen Sichtweite im Schwarzen Meer, den starken Boden- und Oberflächenströmungen und der Kälte des Wassers in den Wintermonaten kamen die Arbeiten aber nur schleppend voran. Schließlich kam im Ausschlussverfahren nur mehr ein Wrack in Frage.
Ich war ganz gerührt, als Levent Yüksel sagte: »Für uns war das nicht irgendein Wrack, sondern ein Unterwasserfriedhof, dessen Tote wir voller Achtung zu behandeln hatten. Auch deshalb hat sich alles lange hingezogen. Wir konnten nicht die üblichen Tauch- und Aufnahmetechniken verwenden.«
Am 16. Juli 2000 war es so weit, dass das Team des SAD mit Unterstützung von anderen Fachleuten bis zur Struma hinabtauchte, die 6 Seemeilen vom Bosporus entfernt in einer Tiefe von 73 bis 80 Metern lag.
»Bestimmt hat sich noch nie ein Taucherteam einem Wrack mit solcher Ehrfurcht genähert wie wir der Struma . Dort ruhten schließlich die Seelen von Hunderten von Menschen. Mir war sogar einmal so, als würde ich durch meine beschlagene Brille hindurch auf dem Schiffsdeck Kinder herumspazieren sehen.«
Trotz Levent Yüksels betont ruhiger Art zu sprechen, waren ihm seine Emotionen anzumerken. Einer seiner Kameraden, ein hochgewachsener Mann mit Brille, bestätigte seine Worte.
»Das Schiff liegt schief, auf der Steuerbordseite. Und es sieht wirklich aus wie ein Friedhof im Meer. Vielleicht kam uns das nur so vor, weil wir die Geschichte kannten. Wer nach Wracks taucht, denkt wohl immer an die toten Seeleute, aber bei der Struma war es schon etwas ganz Besonderes. Um ihren Frieden nicht zu stören, haben wir uns nirgends an dem Schiff zu schaffen gemacht.«
Nach diesen Worten setzte eine Stille ein, als hielten wir an einem Massengrab eine Schweigeminute.
Anschließend zeigten sie mir die Aufnahmen von dem Tauchgang. Die Struma lag mit Schlagseite auf dem trüben Meeresboden, über und über von Muscheln bedeckt.
Ich fragte,
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