Serenade für Nadja
Letztes Jahr ist sie gefunden worden, von der SAD, da waren Bekannte von mir dabei.«
»Tatsächlich? Wer ist die SAD?«
»Ein Verein, der Unterwasserforschung betreibt.«
»Könnten Sie mir vielleicht die Namen Ihrer Bekannten geben?«
»Selbstverständlich.«
So hielt ich, als ich wieder ins Sonnenlicht hinaustrat, einen Zettel mit zwei Namen und Telefonnummern in der Hand.
23
Da der Istanbuler Flughafen überlastet war, mussten wir eine Weile über der Stadt kreisen. Das Flugzeug hielt zunächst auf das Schwarze Meer zu, flog über Kilyos hinweg wieder zurück, über den Bosporus hinüber und schließlich aufs Marmara-Meer zu. Ich sah auf die Stadt, die monströse Ausmaße angenommen hatte. Zehn Millionen Einwohner und die Abgase unzähliger Autos hatten eine giftige Glocke gebildet. Illegale Bauten fraßen sich in die Landschaft.
Hätte es nicht so einen wichtigen Grund gegeben, wäre es pure Dummheit von mir gewesen, schon nach so kurzer Zeit das Paradies Bodrum zu verlassen, um in die verseuchte Luft von Istanbul zurückzukehren. Meine Eltern hatte ich mit dieser Ankündigung kalt erwischt, doch da sie die Launen ihrer Tochter gewöhnt war, sagten sie nichts. Und in ein paar Monaten würde ich ja mit Kerem wiederkommen.
Als ich zu Hause den Schlüssel ins Schloss steckte, kam ich mir auf einmal vor, als sei ich gar nicht weg gewesen und hätte von Bad Arolsen, von den Kleinwüchsigen und von Bodrum nur geträumt. Mir ging es wie Dostojewski, dem bei der Rückkehr aus Europa nach Sankt Petersburg immer war, als schlüpfe er in seine alten Pantoffeln.
Als Erstes schaute ich nach, wie der Tannensetzling und die anderen Topfpflanzen meine Abwesenheit verkraftet hatten, aber denen ging es gut. Dann griff ich zum Telefon und ging die Sache an, die meine Abreise so beschleunigt hatte: Ich rief Levent Yüksel von der SAD an.
Er war der Leiter des Teams, das nach der Struma getaucht war. Als ich ihm eröffnete, dass ich mich gerne mit ihm treffen würde, wollte er natürlich etwas über mich wissen, und diesmalschob ich nicht die Uni vor, denn er konnte ja die Berichte über mich gelesen haben. So gab ich mich als freie Forscherin aus und fragte ihn, ob es über die Taucherarbeiten nicht auch Foto- oder Videomaterial gebe.
»Am besten, ich ziehe auch meine Taucherkollegen hinzu, dann können wir Ihnen ein Bild von der Lage vermitteln«, sagte er höflich. Wir vereinbarten für den nächsten Morgen einen Termin in seinem Büro.
Ich hatte keinerlei Lust, noch aus dem Haus zu gehen, und machte mich wieder an die Übersetzung. Es war gar nicht zu sagen, was für eine innere Leere mich manchmal packte, seit Maximilian nicht mehr da war. So als ob alles, was nicht mit der Struma , mit Nadja oder mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun hatte, gänzlich ohne Bedeutung gewesen wäre. Irgendwie war ich ein anderer Mensch geworden.
Da fiel mir etwas ein. Ich hatte gelesen, dass in den siebziger Jahren eine amerikanische Serie namens Holocaust auch im deutschen Fernsehen gezeigt worden war. Eine bittere, aber nur allzu gerne verdrängte Wahrheit war somit durch eine Fernsehserie wieder ins Bewusstsein der Menschen gebracht worden.
Aus dem Internet erfuhr ich weiter, dass das türkische Staatsfernsehen TRT damals eine Ausstrahlung der Serie in der Türkei nicht zugelassen hatte. Bei den Türken, die mit der Sache nichts zu tun hatten, war also verboten worden, was die Deutschen sich selber zumuteten. In was für einem sonderbaren Land wir doch leben.
Ich zog nun meinen Mantel an, ging zum Videoverleih des Einkaufszentrums und fragte dort nach der Serie Holocaust . Sie hatten sie nicht, stattdessen empfahl mir der junge Mann an der Theke einen Film mit dem Titel Das Leben ist schön .
Ich lieh ihn mir aus und setzte mich in ein Café. Als ich schon dabei war, innerlich zu lamentieren, dass in der Welt die Unterhaltung allmählich an die Stelle der Kultur trete, bremste ich mich gerade noch rechtzeitig ab. Ach, komm, spiel dich nicht so auf, dachte ich, du bist weder Philosophin noch Wissenschaftlerin. Kümmre dich nicht um die Probleme der Menschheit, sondern bring lieber dein eigenes Leben in Ordnung.
Dann ging ich nach Hause und sah mir den Film an, der mich ständig zwischen Lachen und Weinen schwanken ließ. Ihn als »amüsant« zu bezeichnen, wurde ihm nicht gerecht. Ich dachte mir beim Anschauen, dass Menschen, die ein schöneres Leben haben wollen, dies auch unter den schwierigsten Bedingungen zu erreichen
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