Sex und die Zitadelle: Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt (German Edition)
westlichen Lebensstil heran: Ich machte einen Bogen um Schweinefleisch und Alkohol und lernte al - Fatiha – die Eröffnungssure des Korans – auswendig, die mich meine Eltern vor unseren sehr britischen Sonntagsessen aufsagen ließen. Als die einzigen Muslime in der Straße waren wir immer die Ersten, die weihnachtliche Lichterketten anbrachten, und Ostern verging nie ohne ein Nest mit Schokoeiern.
Was Ägypten anlangt, so besuchten wir jedes Jahr meine Großmutter Nuna Aziza und den großen Kreis von Tanten, Onkeln, Cousins und Cousinen. Wir fielen aus dem Rahmen: Meine Mutter war die einzige khawagayya – ägyptisches Arabisch für »westliche Frau« –, die in die Familie eingeheiratet hatte, und in meiner Kindheit waren wir die einzigen Familienmitglieder, die außerhalb Ägyptens lebten. Dank des Ansehens meines Vaters als ältester Sohn und meiner eigenen exotischen Abstammung aalte ich mich im Rampenlicht. Die Wohnung meiner nuna war ein regelrechter Gedenkschrein für den winzigen Zweig der Familie im Exil; zwischen Plastikpflanzen und Petit-Point-Bildern mit Possen treibenden Schäfern und schamhaften Jungfern steckten unsere Fotos auf Kaffee- und Wandtischchen, deren vergoldete Zierbeine für das ganze Gewicht der großmütterlichen Zuneigung zu schwach zu sein schienen. Mit zunehmendem Alter begann ich, Ägypten zu lieben und den Islam zu respektieren, aber ich dachte nie daran, hinter die Oberfläche zu blicken.
In Kanada kritisierten viele der ägyptischen Freunde meines Vaters seine Entscheidung, sein einziges Kind nicht strenger im Glauben zu erziehen. Weder brachte man mir sala t bei, das muslimische Gebetsritual, noch lernte ich Arabisch. Nicht aus mangelnder Überzeugung meines Vaters. Er ist ein frommer Muslim, der fünfmal am Tag betet und jeden Morgen den Koran aus dem Gedächtnis rezitiert; er ist ein Haddsc h , ein Mann, der die Pilgerfahrt in die heiligen Städte Mekka und Medina unternommen hat; in jedem Ramadan hält er penibel das Fastengebot ein, und er zahlt immer die Zaka t , das Almosen für die Armen. Mein Vater sah jedoch, wie seine Freunde den Islam und ihre eigene arabische Erziehung ihren Kindern – insbesondere ihren Töchtern – aufdrängten, wie um sie gegen die vermeintlichen Übel des Westens zu immunisieren. Doch oftmals sahen die Kinder in dem, worin diese Eltern eine Gefahr erkannten, eine großartige Gelegenheit, und viele wandten sich von einem religiösen und kulturellen Erbe ab, das ihnen als eine starke Medizin in zu hoher Dosierung erschien. Meine Eltern dagegen gaben mir die Freiheit, mich zu meinen eigenen Bedingungen und dem mir geeignet erscheinenden Zeitpunkt meiner Religion und meinen Wurzeln zuzuwenden.
Dieser Zeitpunkt kam nach dem 11. September 2001. Wie so viele andere, die einen Spagat zwischen Ost und West versuchen, sah ich mich gezwungen, mich eingehender mit meiner Herkunft zu beschäftigen. Dass ich Sexualität als meine Linse auswählte, ist ungewöhnlich, aber angesichts meines beruflichen Werdegangs nachvollziehbar. Als Redakteurin beim Economis t schrieb ich unter anderem über Aids, und dazu gehörte auch die betrübliche Aufgabe, über den Stand der globalen Epidemie zu berichten. Jedes Jahr publiziert UNAIDS, die für die Datenerhebung und Politikkoordinierung im Bereich Aidsbekämpfung zuständige UN-Organisation, einen aktuellen Bericht voller beängstigender Statistiken über HIV-Infektionen. Bemerkenswert fand ich allerdings nicht die sehr hohen Zahlen für Sub-Sahara-Afrika, Osteuropa und Asien, sondern die verschwindend geringen Zahlen im arabischen Raum, die nur einem Bruchteil der Infektionsraten in anderen Regionen der Welt entsprachen. Wie konnte in einem Zeitalter der Massenmigration und -mobilität ein Teil der Welt scheinbar immun gegen HIV bleiben? War es möglich, dass Menschen in der arabischen Region einfach keine risikobehafteten Verhaltensweisen praktizierten – keine gemeinsame Nutzung von Injektionsnadeln, kein Gebrauch HIV-verseuchter Blutkonserven und kein ungeschützter Sex?
Als ich damit anfing, Fragen zu stellen, stieß ich auf die Kluft zwischen öffentlichem Anschein, wie er sich in den amtlichen Statistiken niederschlug, und privater Wirklichkeit. Während viele Leute mir sogleich versicherten, Aids sei in der arabischen Welt kein Problem und könne hier auch niemals zu einem Problem wie in anderen Regionen werden, lernte ich Familien kennen, in denen alle infiziert waren, und ich lauschte den immer
Weitere Kostenlose Bücher