Sex und die Zitadelle: Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt (German Edition)
Norm zu genügen – jungen Menschen, die es sich nicht leisten können zu heiraten, Karrierefrauen, die nicht den Geschlechterrollenerwartungen entsprechen, Männern und Frauen in gleichgeschlechtlichen Beziehungen, denjenigen, die Sex verkaufen, um über die Runden zu kommen –, wird in zunehmendem Maße anerkannt, aber es gibt einen verbreiteten Widerstand gegen jegliche Alternative. Selbst im Ehebett ist Sex etwas, das man tut, nichts, worüber man spricht. Dieses kollektive Unbehagen gegenüber Sexualität macht es umso schwerer, die negativen Auswirkungen zu bewältigen, etwa Gewalttätigkeit, erhöhte Infektionsrisiken, Ausbeutung, sexuelle Funktionsstörungen, Unzufriedenheit in der Ehe und völlige Unwissenheit. »In der arabischen Welt ist Sex das Gegenteil von Sport«, sagte mir ein ägyptischer Gynäkologe. »Jeder spricht über Fußball, aber kaum einer spielt Fußball. Sex dagegen hat jeder, aber niemand will darüber sprechen.«
Wer in der arabischen Welt aufwächst, dem wird schon frühzeitig beigebracht, sich von den »roten Linien« fernzuhalten; gemeint sind damit Tabus rund um Politik, Religion und Sex, die in Wort oder Tat nicht in Frage gestellt werden dürfen. Diese Linien sind freilich keine isolierten Striche. Wie kalligraphische Schriftzüge fließen sie ineinander und vermischen sich; wenn man einen Teil davon entfernt, ändert sich die Bedeutung des Restes. Das »Erwachen Arabiens«, das in diesem Jahrzehnt begann, setzte einen Meißel an die rote Linie der Politik und begann mit dem langwierigen Prozess, altüberkommene Überzeugungen abzutragen: Die Demokratie sei für die Völker der arabischen Region aufgrund ihrer Religion, Kultur und Tradition eine ungeeignete Regierungsform; sie würden die Obrigkeit niemals in Frage stellen; ihre Furcht vor instabilen Verhältnissen sei stärker als ihr Wunsch nach Veränderung und den damit einhergehenden Unsicherheiten; sie könnten nicht mit Freiheit umgehen. Jetzt, da diese Ketten zerbrochen sind, ist es nur natürlich zu fragen, ob andere Tabus folgen werden.
Seit der Erhebung ist Kairo zu einer großen Anschlagtafel für Menschenrechte geworden. »Freiheit«, »Gerechtigkeit« und »Würde« sind nur einige der Schlagwörter in den Graffiti, die man überall in der Stadt sieht. Aber die Ausweitung dieser Rechte – sowie von Gleichheit, Achtung der Privatsphäre, Selbstbestimmung und dem Recht auf körperliche Unversehrtheit – auf das Liebesleben aller Bürger ist eine ganz andere Sache. »Sexuelle Rechte« bedeuten in der Praxis die Freiheit, sexual- und reproduktionsmedizinische Dienstleistungen zu nutzen, Ansichten über Sexualität offen zu äußern und zu veröffentlichen und sich ungehindert Informationen zu verschaffen. Es ist das Recht, sich seinen Partner/seine Partnerin selbst zu wählen und in einvernehmlichen Beziehungen sexuell aktiv zu sein oder nicht. Es ist die Freiheit zu entscheiden, ob und wann man ein Kind haben will. Es ist das Recht, über den eigenen Körper frei zu verfügen, und die Freiheit, nach einem befriedigenden, geschützten und lustvollen Sexualleben zu streben. All dies ohne Zwang, Diskriminierung oder Gewalt – das ist überall auf der Welt ein sehr hoher Anspruch. 1
Sexuelle Rechte sind unveräußerliche Menschenrechte; sie sind keine nachrangigen Rechte, die man nach Belieben annehmen oder ablehnen könnte, ohne die Freiheit und Menschenwürde des anderen zu missachten. Die Ausübung des »sexuellen Bürgerrechts« – die Freiheit, Entscheidungen eigenverantwortlich zu treffen und Rechenschaft von den Trägern öffentlicher Gewalt zu fordern, und zwar unabhängig von der Hautfarbe, von Schicht- und Religionszugehörigkeit, Geschlecht oder sexueller Orientierung – ist mehr als nur Ausdruck eines demokratischen Systems. Es ist ein Mittel, um ein solches System aufzubauen, indem man diese Prinzipien im Kern der menschlichen Existenz verankert, wo sie ihrerseits Einstellungen und Handlungen in anderen Bereichen prägen.
»Sexuelle Rechte« aber sind in der arabischen Welt ein Minenfeld; für viele Menschen sind sie ein Kürzel für eine westliche gesellschaftspolitische Agenda, die gleichbedeutend ist mit Homosexualität, freier Liebe, Prostitution, Pornographie und einer gefährlichen Tendenz zur Unterminierung des Islam und »traditioneller« arabischer Werte. Solche Unterschiede spiegeln sich in World Values Surveys – in bestimmten Abständen erfolgende weltweite Umfragen über
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