Shakespeare erzählt
wäre gerächt gewesen.
Daß er Claudius nicht tötete, begründet Hamlet vor sich selbst. »Er betet. Vielleicht bereut er. Vielleicht ist seine Seele in diesem Augenblick rein. Schon morgen kann sie wieder besudelt sein, wenn er die Reue zurücknimmt.« Es hat ihn niemand gefragt, warum er Claudius nicht tötet. Aber Hamlet antwortet, als stünde er im Verhör. »Wenn ich ihn jetzt töte, geht er in den Himmel ein.«
Die Antwort ist merkwürdig. Merkwürdig auch deshalb, weil sie ein wenig blöd ist. Eines Hamlet nicht würdig. Hätte er gesagt, der geweihte Ort habe ihn abgehalten, wir hätten ihm eher geglaubt. Diese Antwort aber nehmen wir ihm nicht ab. Solche Antworten gibt man, wenn einem nichts einfällt, wenn man in die Enge getrieben wird. Wer treibt hier Hamlet in die Enge?
Hamlet gibt diese Antwort auf eine Frage, die er sich selbst gestellt hat: »Warum habe ich es hier und jetzt nicht getan?« Es sind Fragen nach Zeitpunkt und Ort. Hamlet beantwortet sie mit der Befindlichkeit des Claudius. Wir vermuten: Hamlet weicht aus. Wie er es so oft tut. Warum sollte er sich selbst eine klare Antwort geben, wenn er niemandem eine gibt? Die wahre Frage lautet nicht: Warum will ich es hier und jetzt nicht tun? Sondern: »Warum will ich es überhaupt nicht tun?«
Warum tötet Hamlet Claudius nicht? Moralische Skrupel halten ihn sicher nicht davon ab. Wenn er später Polonius, den Vater seiner einst geliebten Ophelia, tötet, kostet es ihn kaum einen Gedanken.
Hamlet hat Angst. Wovor? Ja, wovor eigentlich? Er fürchtet nicht um sein Leben; er hat abgeschlossen; sein Studium interessiert ihn nicht mehr, auf den Thron hat er es wohl nie ernsthaft abgesehen. Und die Liebe, die Liebe stößt er zurück, als wäre sie eine Zumutung. Wovor hat Hamlet Angst? Er redet und redet und redet. Und je mehr er redet, desto mehr überzeugt er uns, daß er redend verschweigt. Jedem Gespräch weicht er aus.
Aber dann hält ihn seine Mutter auf. Weiß Gertrude, daß Claudius den König ermordet hat? Nein!
»Was wirfst du mir vor?« fragt sie ihren Sohn.
»Daß du so schnell vom einen zum anderen gewechselt bist.«
»Was meinst du damit?«
»Daß du dich zu ihm ins Bett legst! Daß du dir von ihm dein Hälschen streicheln läßt und dir sein stinkendes Maul auf die Lippen pressen läßt. Wie eine Hure!«
Gertrude reagiert nicht mit Zorn, auch nicht mit Tränen. Sie ist verletzt, zutiefst verletzt, und sie wundert sich. Jawohl: Zuallererst reagiert sie auf Hamlets Vorwürfe und Beschimpfungen mit Verwunderung.
Verwunderung. Genau so lautet das Schlüsselwort für jene, die später, nachdem die Geschichte zu Ende war, eine spektakulöse Theorie aufgestellt haben.
Die fragen nämlich: »Ist es nicht in der Tat erstaunlich, daß Gertrude und Claudius so schnell geheiratet haben?«
»Es ist pietätlos«, antworten wir ihnen, »aber erstaunlich ist es eigentlich nicht. Leidenschaft mag es gewesen sein, eine heftige Leidenschaft.«
»Die beiden waren doch nicht mehr jung.«
»Halt!« empören wir uns. »Seit wann ist Leidenschaft ein Privileg der Jugend?«
»Habt ihr den Eindruck von Leidenschaft gehabt, wenn ihr Claudius und Gertrude betrachtet habt?«
»Nein, das nicht. Sie wirkten eher ruhig … abgeklärt.«
»Wie ein altes Ehepaar?«
Jene vermuten, Claudius und Gertrude seien seit langem ein Paar gewesen. Sie seien eines gewesen, als der König noch lebte. Ja, sie seien bereits ein Paar gewesen, bevor der König Gertrude geheiratet hatte. Der eine oder andere behauptet, aus sicheren Quellen erfahren zu haben, daß Gertrudes Vater seine Tochter ohne ihren Willen mit dem König von Dänemark verheiratet habe. Der Bruder des Königs, Gertruds wahrer Geliebter, Claudius, sei nicht gut genug für ihn gewesen.
Und unsere spektakulösen Theoretiker fahren fort: »Gertrude ging davon aus, daß jeder am Hof wußte, daß sie und Claudius sozusagen eine inoffizielle, nicht geheime, aber doch der Form halber geheimgehaltene Ehe führten. Selbstverständlich wußte es auch der König. Und Gertrude mußte annehmen, auch Hamlet wußte es. Deshalb reagierte sie so verwundert auf seinen Vorwurf, sie lege sich schon so bald nach dem Tod seines Vaters zu Claudius ins Bett. Sie lag immer in Claudius’ Bett!«
Spekulationen, gewiß. Aber in dieser Geschichte geht es weniger um das, was geschieht, als um das, was vorher geschah. Und es kommt nicht so sehr darauf an, was geredet wird, als darauf, was gedacht wird. – »Brich, mein Herz,
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