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Shakespeare erzählt

Shakespeare erzählt

Titel: Shakespeare erzählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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der Natur. Finde dich damit ab! Es hat etwas Tröstliches, den Widerstand gegen die Natur aufzugeben, glaub mir.«
    Claudius nennt Hamlet: »Mein geliebter Sohn!« Immer wieder nennt er ihn: »Mein geliebter Sohn.« Hamlet reagiert darauf mit Ekel. Und Trost kennt er keinen, und trösten will er sich nicht lassen. Von Claudius schon gar nicht.
    »Brich, mein Herz, denn meine Zunge muß schweigen!«
     
    Eines Tages kommt Horatio, sein Gesicht ist ohne Farbe: »Mein Prinz, ich möchte, daß wir beide heute nacht die Zinne der Burg besteigen. Ich muß dir etwas zeigen.«
    Schon zweimal hintereinander haben Wachsoldaten, die dort ihren Dienst versahen, ein Phänomen beobachtet. Etwas, was es nicht gibt, weil es so etwas nicht geben darf. Sie haben Horatio gerufen, und auch er war Zeuge der Erscheinung gewesen. Ja, eine Erscheinung. Ein Geist. Ein Geist in Waffen. Grau wie der Schatten des Mondes bewegte er sich, lautlos. Und jeder dachte es bei sich.
    Horatio sprach es endlich aus: »Es ist der König!«
    Auch in dieser Nacht erscheint der Geist. Und war er bisher stumm geblieben und hat auf Anrufe nicht reagiert, so winkt er nun Hamlet zu sich. Hamlet gibt Horatio und den Wachen ein Zeichen, daß sie ihn allein lassen sollen.
    »Ich bin dein Vater«, sagt der Geist, »ich bin verdammt, nachts eine Stunde auf Erden umherzuirren, um dann wieder in die Schwefelglut zurückzukehren, wo ich meine Sünden abbüße. Wenn ich dir erzählte, was für Qualen ich dort erleiden muß, jedes einzelne Haar auf deinem Kopf würde sich aufstellen und hart werden wie die Stacheln eines Igels. Aber ich bin nicht gekommen, um dir von diesem Jammer zu erzählen. Das Leben reicht über den Tod hinaus, das weiß ich jetzt. Und es gibt Dinge des Lebens, die einem noch im Tod keine Ruhe lassen. Ich bin von meinem Bruder ermordet worden! Ich lag im Garten und schlief, da schlich er sich feige an mich heran und träufelte Gift in mein Ohr. Ich will, daß du Rache übst, Hamlet. Töte ihn! Aber verschone deine Mutter!«
    Horatio und die Wächter finden Hamlet allein auf dem Mauervorsprung stehen.
    »Oh, mein prophetisches Herz!« ruft er aus. »Mein prophetisches Herz!« Und er preßt die Fäuste gegen seine Stirn.
    »Was meint er damit?« fragt einer der Soldaten, wundert sich aber nicht, daß Horatio ihm keine Antwort gibt.
     
    Was meint er damit? Was hat ihm sein Herz prophezeit? Heißt das, Hamlet hat es geahnt? Hat geahnt, daß Claudius der Mörder seines Vaters ist? – Später, nach Hamlets Tod, wenn Horatio – dem letzten Willen Hamlets folgend – die ganze Geschichte bis in alle Einzelheiten ausbreiten wird, wird es heftige Diskussionen gerade über diesen Punkt geben. Die einen werden sagen: »Das kann Hamlet gar nicht geahnt haben! Niemand wäre auch nur auf die Idee gekommen! Warum auch sollte Claudius seinen Bruder töten? Weil er die Macht wollte? Kam Claudius einem von euch als besonders machtlüstern vor?« Andere werden sagen: »Und wenn es gar nicht wahr ist? Wenn Claudius den König gar nicht umgebracht hat? Was gibt es für reele Beweise?«
    Claudius hat. Wir kennen die Gründe nicht, warum er seinen Bruder ermordet hat, wir können nur mutmaßen, aber er hat. Er hat es selbst zugegeben. – Er wird es zugeben. Er wird belauscht werden, wie er vor sich selbst ein Geständnis ablegt.
    Hamlet allerdings benötigt dieses Geständnis nicht. Für ihn steht nach der Nacht auf dem Turm fest: Claudius ist der Mörder seines Vaters. Und Hamlet ist darüber beinahe erleichtert. Was er vorher nur ahnte, jetzt weiß er es.
    Aber vielleicht – so wird spekuliert werden –, vielleicht war die Sache tatsächlich komplizierter, als sie schien, komplizierter, als Horatio erzählte. Der Haß gegen seinen Oheim, der in Hamlet tobte, war groß. Aber er war schon groß gewesen, noch ehe ihm der Geist auf dem Turm begegnet war. Warum haßte Hamlet seinen Oheim so sehr? Claudius sagte zu Hamlet: »Wir alle sind doch erwachsene Menschen«, und meinte damit: Wenn deine Mutter und ich ein Bett teilen, mag dich das vielleicht ärgern, aber es geht dich nichts an. Und damit hatte er recht. Der Gedanke, daß es die beiden miteinander trieben, erfüllte Hamlet mit Abscheu und Ekel. Aber sein Haß meinte mehr. Das spürte er. Dieser Haß beunruhigte ihn. Weil er eben einen anderen Grund dahinter ahnte. Als er erfuhr, daß Claudius den König ermordet hatte, war er, wie wir gesehen haben, erleichtert. Aber warum war er wirklich erleichtert? Deshalb,

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