Shana, das Wolfsmädchen
Blick verweilte kurz auf mir; ihre Augen waren nicht braun, nicht schwarz, sondern vollkommen golden. Nie hatte ich solche Augen gesehen. Fasziniert und unhöflich zugleich sah ich ihr ins Gesicht. Ich hatte das Gefühl, dass dieser ruhige, starre Blick sich messerscharf in mich hineinbohrte. Ich presste mich enger an das glühende Blech, sie ging weiter, und das war alles. Und später, als einige Jugendliche begannen mit Abfallsäcke herumzugehen und das Gelände zu säubern und die Teilnehmer zu ihren Pick-ups gingen, sah ich Alec und Donatella auf dem Motorrad wegfahren. Beide hatten sich umgezogen. Donatella trug ein ärmelloses Top, knallenge Jeans und Pumps mit hohen Absätzen. Wahrhaft ideal für einen Waldspaziergang im Mondschein, dachte ich. Hoffentlich verrenkt sie sich die Knöchel.
Später in der Nacht wanderte ich die Straße entlang, wo die letzten Autos vorbeifuhren. Am Waldrand fand ich einen ruhigen Platz, warf mich ins warme Gras und sah die Sterne glitzern. Und auf einmal hörte ich es wieder, dieses lang gezogene, unglaublich traurige Heulen. Es klang wie das Echo meiner eigenen Qual, als ob das unbekannte Tier meine Verzweiflung teilte. Ich entsann mich an die Geistergeschichten meiner Kindheit. Mir wurde ganz schwindlig und einen Moment hoffte ich schon, ich sei tot. Ich schnappte keuchend nach Luft, antwortete dem fernen Geheul mit einem lauten, krampfhaften Schrei, der in heftiges Schluchzen überging. Ich weinte, den ganzen Körper vor Schmerz geschüttelt. Und als ich alle Tränen geweint hatte und mein Zittern sich beruhigte, merkte ich, dass das Tier – was immer es gewesen sein mochte – schwieg. Das Schreien hatte befreiend gewirkt, ich atmete ruhiger. Mit der Entspannung kam ein Gefühl des Absinkens. Ich schlief eine Weile, doch nicht lange. Ich erwachte in völliger Dunkelheit, schlotternd vor Kälte. Steif richtete ich mich hoch, setzte ungeschickt einen Fuß vor den anderen und begann in Richtung Dorf zurückzulaufen.
5. KAPITEL
Der Sommer ging vorbei, irgendwie. Mit meinem Vater sprach ich nicht mehr. Man kann mit einem Menschen unter einem Dach leben, ohne von ihm Notiz zu nehmen. Man muss nur aus dem Zimmer gehen, wenn er kommt, morgens nicht zu gleicher Stunde aufstehen, nicht zur gleichen Zeit essen. Elliot spülte sein schmutziges Geschirr, kratzte die Töpfe aus, kümmerte sich um seine Wäsche. Er wusste, dass ich für ihn keinen Finger gerührt hätte. Elliot saß vor der Glotze, ich verdrückte mich in mein Zimmer und las. Die Bücher holte ich mir aus der Bibliothek. Ich faulenzte,schlief oder verlor mich in Tagträumen. Alec war schon in Seattle. Ob er sich noch mit Donatella traf, wusste ich nicht. Es war mir auch egal. Ich jedenfalls würde nie den Mut aufbringen, ihm jemals wieder vor die Augen zu treten. Ich schämte mich viel zu sehr. Ich hatte ohnehin den Eindruck, dass alle Leute mich komisch anstarrten. Es konnte ja sein, dass Elliot die Geschichte in der Kneipe erzählt hatte und jeder im Dorf Bescheid wusste. Ich wagte mich kaum noch auf die Straße. Entsetzlich.
September. Schulanfang. Ein paar Lehrer teilten sich die oberen Klassen. Lela Woodland würde bei uns Sozialkunde, Literatur und Musik unterrichten. Ich hatte Lela nach diesem unglückseligen Powwow nicht mehr gesehen und wäre ihr am liebsten nie mehr begegnet. Ich wollte alles, was mit dieser Geschichte zusammenhing, aus meinem Gedächtnis streichen. Aber als sie in die Klasse kam und ihre merkwürdigen, goldfarbenen Augen auf mich richtete, wurde mir klar, dass sie mich total vergessen hatte. Ich war ein Stück gewachsen, trug mein Haar jetzt schulterlang. Sauber wollte ich aussehen, gut gekämmt, damit sie mich nicht erkannte. Es schien, dass es mir gelungen war. Wir waren eine kleine Klasse, fünfzehn Halbwüchsige, mehr oder weniger interessiert, aber von den Eltern dazu erzogen, sich in Gegenwart von Erwachsenen ruhig zu verhalten. Randalieren entsprach nicht unserer Art, wir neigten mehr zur Selbstzerstörung.
Bisher war es in der Schule stinklangweilig gewesen. Ich hätte nicht sagen können, warum es bei Lela anders war. Sie war nicht unsere einzige indianische Lehrerin, aber sie hatte ein geheimnisvolles Gesicht, das zu sagen schien: »Ich achte euch, aber ich verlange von euch mir gegenüber die gleiche Achtung.« Sie saß selten am Pult wie die anderen Lehrer, sondern ging mit weichen Schritten vor der Tafel auf und ab, immer in Bewegung, sehr leichtfüßig. Das Haar trug sie beim
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