Shana, das Wolfsmädchen
lag in der untersten Schublade der Kommode. Leder verträgt keine eingeschlossene Luft. Ich entsann mich, dass Melanie das Kleid ein paar Mal im Jahr ausschüttelte und nach draußen hing. Dann bewegte sich das Kleid im Wind, flirrte wie eine tanzende Figur im Sonnenlicht. Jetzt, im roten Schein des anbrechenden Tages, kauerte ich mich unbeholfen nieder, zog die Schublade auf. Mein Atem setzte aus. Das Kleid war verschwunden.
Ich kniete vor der Schublade – wie lange, wusste ich nicht. Ich dachte an gar nichts, lauschte nur auf das vertraute Knarren des alten Holzhauses, auf meinen eigenen Herzschlag.
Nach einer Weile dachte ich, vielleicht hat Elliot das Kleid in eine andere Schublade gelegt oder in einen Schrank oder in einen alten Koffer. Aber ich machte mir nicht die Mühe, im Gerümpel zu suchen, denn ich wusste bereits die Wahrheit. Jemand hatte das Kleid gestohlen. Es war mein Kleid gewesen. Und wer es gestohlen hatte, wusste ich auch.
Ich stand lautlos auf, ging in die Küche und machte mir einen Kaffee, den ich in eine schmutzige Tasse goss. Der Kaffee war heiß, viel zu stark und schmeckte ekelhaft. Ich würgte ihn herunter, spülte mir den Mund im Spülbecken aus. Dann setzte ich mich oben auf die Treppenstufen und wartete. Jedes Mal, wenn ich mich bewegte, gab das Holz kleine, quietschende Geräusche von sich, die mir durch Mark und Bein gingen. »Sei ruhig!«, flüsterte ich, als ob das Holz ein Lebewesen wäre, zu dem ich sprechen konnte. Ich hatte das merkwürdige Gefühl, dass mein Körper sich weitete, größer und immer größer wurde wie eine Luftblase, die das ganze Haus ausfüllte.
Es war heller Tag, als Elliot nach Hause kam. Ich musste eingeduselt sein, denn plötzlich hörte ich schwere, unsichere Schritte. Ich zuckte zusammen, war in einer Sekunde hellwach. Die Haustür flog auf. Elliot torkelte in die Diele. Ich saß oberhalb der Treppe im Schatten, sodass er mich zuerst nicht sah. Er knallte die Haustür zu, wankte zum Klo, ich hörte sämtliche Geräusche. Die Klospülung zog er nicht. Dann, stur vor sich hin brummelnd, quälte er sich die Treppe hinauf, zwei Schritte für jede Stufe. Auf einmal erblickte er mich, blieb stehen. Seine Haare waren zerzaust, das schmutzige Hemd klebte an seinem Körper und verlieh ihm ein lächerliches Aussehen. Ich roch den süßlichen Geruch seines Erbrochenen.
»He, was machst du da?«, lallte er.
»Wo ist mein Kleid?«, fragte ich.
Er hielt sich am Geländer fest.
»Dein Kleid? Welches Kleid?«
»Melanies Festkleid. Es gehört jetzt mir.«
»Dir?« Er kniff die Augen zusammen. »Wer hat das gesagt?«
Ich hob herausfordernd den Kopf.
»Melanie. Und ich will es jetzt haben. Ich tanze heute für sie.«
Er rieb sich mit den Händen übers Gesicht, sein ganzer Körper zitterte. Er schien unfähig auch nur einen Ton über die Lippen zu bringen.
Ich richtete mich auf. Da ich drei Stufen höher stand und er mich von unten sah, war mir, als sei ich fast doppelt so groß. Dass ich noch stärker zitterte als er, merkte er wahrscheinlich nicht.
»Wo ist das Kleid?«
Unbarmherzig betonte ich jede Silbe. Elliot schluckte würgend. Das erbärmliche Grinsen eines Einfältigen, eines Idioten, verzerrte sein Gesicht.
»Verkauft«, sagte er. »Ich habe es verkauft. Ich brauchte Geld. Musste einem Kumpel was zurückzahlen.«
Schweigen. Ich hatte das Gefühl, dass mein Kopf wie eine Rassel hin und her schlug. Endlich konnte ich sprechen. Ich fragte: »Wem hast du es verkauft?«
»Einem Urban. Und der ist weg.« Elliot murmelte schwerzüngig vor sich hin, aber das Echo seiner Worte setzte sich in meinen Ohren für alle Ewigkeit fest. »Die Leute von hier, die haben Melanie tanzen gesehen. Die hätten das Kleid nie gekauft.«
»Nein«, flüsterte ich rau.
Er atmete gepresst, kratzte sich die schwitzende Brust.
»Was ich sagen wollte … ambesten, du denkst nicht mehr daran. Deine Mutter, sie ist ja nicht mehr da.«
»Doch«, erwiderte ich.
»Wie?«, knurrte er.
Ich schluckte schwer.
»Doch, sie ist da. Sie hört und sieht alles.«
Es waren die einzigen sicheren Worte, die mir einfielen. Elliot fuhr sich mit dem Ellbogen über die nasse Stirn, atmete laut durch die Nase.
»Hatte Probleme«, sagte er tonlos. »Bin reingeschliddert. Musste zahlen …«
Er zog sich mühsam am Geländer hoch, bis er dicht unter mir stand. Er streckte die Hand aus, um mir über den Kopf zu streichen. Sein Gesicht war klebrig und verzerrt.
»Shana, es tut mir Leid,
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