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2008
Afghanistan, nördliche Provinzen
Unterwegs in einem Toyota Land Cruiser, sieben Uhr morgens, Sack überm Kopf, unter der Kinnlade zugebunden. Der offene Mund saugt Stoff an, da durch die Nase nicht genug Luft in die Lungen strömen will, doch tatsächlich ist es ein mentales Problem. Das Gewebe ist durchlässig, der Rest Gewöhnungssache.
Kann man sich daran gewöhnen? Seiner Sicht beraubt über Bergstraßen voller Schlaglöcher zu kacheln, während einem die Rückbank ins Kreuz drischt?
Hängt von den Umständen ab. Selbst in weniger zivilisierten Gegenden gibt es nicht viele Gründe, jemandem eine muffige schwarze Kapuze über den Kopf zu stülpen. Entweder wird man gleich darauf erschossen oder aufgehängt, womit sich die Frage nach der Gewöhnung erübrigt hat. Oder man wird verschleppt, hört den gelassenen Schritt des Folterers nahen, seine freundliche Stimme, bevor er einem die Hölle bereitet, solcherlei Unannehmlichkeiten.
Dritte Möglichkeit, man trägt das Ding freiwillig, weil der Fahrer nicht will, dass man sich später an die Route erinnert.
Hagen weiß, dass Björklund neben ihm weniger gut mit der Situation zurechtkommt. Sein Asthma macht ihm zu schaffen. Ihn selbst stört eigentlich nur, dass sich irgendwann mal jemand in seinen Sack erbrochen haben muss. Der Stoff ist sauber, also gewaschen, aber manche Gerüche setzen sich für alle Zeiten fest. Weniger die Moleküle selbst konservieren die Vergangenheit, als vielmehr die Umstände ihres Hineingelangens, etwa so, wie sich die Gedanken Verstorbener in einem Geisterhaus einnisten. Hagen mag sich nicht vorstellen, welches Schicksal der arme Teufel durchleiden musste, der die Kapuze vollgekotzt hat. Möchte glauben, dass er oder sie das Ding ebenso aus freien Stücken getragen hat wie sie beide in diesem Moment, und weiß es doch besser.
War es Marianne Degas, Max Keller oder Walid Bakhtari? Welchem der drei sind unter dem Stoff, der ihn vorübergehend erblinden lässt, Nerven und Magenwände entgleist?
Die Vorstellung beginnt von Hagen Besitz zu ergreifen, dass sie ihmgenau einen der Säcke verpasst haben, unter denen sich die Entführten an den Szenarien ihres Sterbens abgearbeitet haben. Als seien nicht Hunderte solcher Säcke im Umlauf, Tausende. Wer stellt so was eigentlich her, denkt er. Gibt es einen Versandhandel für Geiselnehmer? – Aktionswochen, jetzt zugreifen! Kapuze, blickdicht, in S, M oder L, exzellente Qualität, ein Jahr Garantie, sofort lieferbar. Dazu Fußfesseln ›Dadullah‹ mit geräuscharmem Klickverschluss. Nie wieder Knotenmachen, wenn’s schnell gehen muss, klick, und die Fessel sitzt. Bei Abnahme von zehn Sets gibt es den Folterkasten ›Fromme Taten‹ als Gratisgeschenk dazu, also zögern Sie nicht! Rufen Sie jetzt an, verschlüsselt unter –
Degas. Keller. Bakhtari.
Seit Husain ihm eröffnet hat, den Aufenthaltsort der drei Entwicklungshelfer zu kennen, die seit anderthalb Monaten vermisst werden, denkt Hagen an nichts anderes. Zwei Mitarbeiter einer deutschen Hilfsorganisation und ihr einheimischer Fahrer, auf dem Weg nach Qowngowrat im nördlichen Kunduz-Delta verschollen, wohin sie mit einer Wagenladung Medikamente und Infusionslösungen aufgebrochen waren. Nie angekommen. Zuletzt gesehen in der Gegend um Aqli Bur, einem Kaff, das zwischen Reisfeldern und Melonenplantagen in eine Hügelkette gekrümelt liegt, keine zehn Kilometer von Kunduz-Stadt entfernt. Das Übliche. Lehmbauten, Strohdächer, Ziegen, winkende Kinder.
Dort sind sie verschwunden.
Drei Tage später informiert die Organisation – Heal Afghanistan, ein Name, dem das Odium der Selbstüberschätzung anhaftet – das Auswärtige Amt und gibt eine Pressemeldung heraus. Der Faktengehalt geht gegen null. Es gibt kein Bekennervideo, keine Forderung. Im Krisenreaktionszentrum halten sie pfleglich die Hände still. Was sollen sie auch groß unternehmen? Es gilt ja nicht mal als sicher, ob überhaupt jemand die drei hopsgenommen hat. Vielleicht düngen sie längst afghanisches Ackerland. Oder liegen eingebuddelt im Sand der Wüste, von 50 Grad Mittagstemperatur hübsch mumifiziert, die Ötzis kommender Generationen. Will jemand losziehen, sie zu suchen?
Schon besser gelacht.
Weil man den Vorfall andererseits nicht völlig ignorieren kann, veröffentlicht die Presse zehn Zeilen Text, in denen Heal Afghanistan seine Verluste beklagt. Die Meldung erscheint im Nachrichtenfriedhof des Panorama-Teils, als Hagen gerade in seiner Hamburger Wohnung
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