Shane - Das erste Jahr (German Edition)
die Winters wohnten, im Obergeschoss, in einem der drei Kinderzimmer kniete in der Nacht ein Mädchen und zog etwas unter einem Bett hervor. Es zog einen Beutel unter dem Bett hervor, öffnete ihn und blickte mit großen Augen auf das, was in ihm gesteckt hatte. Langsam strich das Mädchen mit den Fingern darüber, dann mit der ganzen Hand, so, als hätte es einen Schatz gefunden.
Shane schob mit dem Fuß matschigen Schnee beiseite und blickte in den Himmel. Er war dunkelblau. Am Horizont konnte sie bereits die aufgehende Sonne erkennen. Sie lächelte. Das erste Mal seit langem fühlte sie eine Zuversicht in sich. Es würde wieder hell werden.
Shane zuckte zusammen. An ihr fuhr ein riesiges oranges Fahrzeug vorbei, das die gewaltigen Schneemassen vor sich her schob, genauso, wie sie gerade getan hatte.
Wenn es wieder Frühling wurde, wenn es wieder warm wurde, warm und hell; würde nicht alles wieder gut werden können? Was meinst du mit gut, Shane? Du bist, was du bist.
Shane schluckte. Sie sah dem Schneeschieber hinterher. Der Frühling schien nun ganz nah. Es würde wieder hell werden. Sie lächelte noch immer. Als sie in die Straße einbog, in der sie wohnte, klopfte ihr Herz schneller. Shane war aufgeregt, sie wusste nicht, wie viele es waren, wie viele Seiten, sie hatte versucht, die Blätter zu ordnen, doch es schien ihr fast unmöglich.
Sie hatte in der Nacht angefangen, das Tagebuch zu lesen, von dem sie nun wusste, wem es gehörte. Wem es gehört hatte. Sie hatte ein Datum gefunden, ein erstes Datum, und hatte versucht, die anderen Blätter danach zu sortieren. Sie hatte solange wie gebannt auf die Papiere gestarrt, bis sie schließlich so erschöpft gewesen war, dass sie es kaum noch geschafft hatte, alles vor den Augen der Mutter zu verstecken.
Shane wurde immer schneller, die letzten Meter zum Haus rannte sie fast.
„23. Juni 1961.
Ich bin heute zu Krämers gegangen und habe mir dieses Büchlein gekauft. Ich will alles aufschreiben, was mich begleitet hat und begleiten wird.
Ich dachte immer, das ist völlig nutzlos und von keiner Bedeutung, nur ein Narr würde denken, dass irgendjemand sich für das Leben eines Menschen wie ich es bin, interessiert.
Ja, ich schreibe absichtlich eines Menschen, auch wenn es die Jäger anders sehen, und wenn sie mich eines Tages finden werden und mich mit ihren seltsamen Pfeilen durchbohren werden, liege ich krepierend am Boden und werde grinsen ob dem Gedanken dieser Zielen hier, die sie vielleicht lesen werden. Doch dies beginnt nicht gut, die Wut packt mich schon wieder und vernebelt den Gedanken, den ich ursprünglich hatte.
Ich lebe und ich flüchte und eines Tages werde ich sterben. Das werden wir alle einmal, alle Menschen, doch die Umstände meines Todes werden vielleicht nicht die sein, für die sie die meisten halten werden.
Auch diese Tatsache ist noch immer nicht von so großer Bedeutung, dass man zu Krämers geht und sich für achtzig Pfennig ein Büchlein kauft. Ich bin nur einer von vielen.
Nein, die Gründe sind andere, und ich bete zu Gott, dass diese Gründe nicht eines Tages verdunkelt werden von einer Wut, die vielleicht noch wächst. Es ist Hedwig. Am 27. Februar 1949 lernte ich eine Frau kennen, nach der sich mein Herz sofort verzerrte.
Doch dies hier soll auch kein Liebesroman werden, ich möchte nur festhalten, dass ich ohne dieses Mädchen nicht mehr leben wollte, nicht konnte; nicht leben will und kann. Am 27.Februar 1953 haben wir geheiratet, und endlich sah ich einen Grund, einen Sinn meines Daseins.
Hedwig weiß, was ich bin, ich habe es ihr einen Tag vor unserer Hochzeit gesagt, sie hat mich nur angesehen mit ihren gütigen wunderschönen Augen und gesagt: „Wenn du denkst, dass ich dich morgen nicht heiraten werde, du feiger Hund, dann irrst du dich.“
Am nächsten Tag haben wir uns unser Wort gegeben, einander zu lieben, sie sah so wunderschön aus, und ich habe an das gedacht, was in der Nacht davor, lange nach meiner Offenbarung passiert war. Sie hatte sich zu mir umgedreht und nur diesen einen Satz gesagt, sie hat ihn einmal gesagt, und dann nie wieder. Ich bin mir sicher, dass sie ihn auch nie wieder sagen wird. „Wir werden keine Kinder bekommen.“
26.Juni 1961.
Ich wundere mich, dass ich noch immer hier sitze und in dieses Heft schreibe.
Ich war noch nie ein Schreiberling, und der Rohrstock war wohl mehr Motivation für mich als meine künstlerischen Ambitionen.
Doch ich kann mir denken,
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