Shane - Das erste Jahr (German Edition)
startete. Langsam schob er sich mit den anderen Idioten über die weißen Straßen. Lieber Idiot als tot. Er kniff die Augen zusammen und krallte sich am Steuer fest.
Da vorn kam ihm ein Räumungsfahrzeug entgegen, er glotzte es genauso ungläubig an wie die anderen Idioten. Dann hatte er sich wieder gefasst. Es war ja nicht so, dass er es nicht voraus gesehen hatte. Oh nein, bald werden viele von euch im Einsatz sein, meine lieben Freunde, doch nicht lange, der Schnee wird dahin schmelzen wie Butter in der Sonne, und dann wird dieser gottverdammte Bürgermeister mitsamt seinen unfähigen Polizisten wieder etwas haben, womit sie sich beschäftigen können, etwas, dass sie von den eigentlichen Problemen ablenken würde.
Doch das ist nicht so wichtig, mein lieber Schmauss, es ist ja nicht so, dass wir dabei drauf gehen könnten.
Auf einmal registrierte der Lehrer, dass er in der Stille seines Autos gekichert hatte. Oh mein Gott, jetzt werde ich verrückt! Jetzt haben sie es tatsächlich geschafft, dass ich verrückt werde! Das macht nix, bald bist du verrückt und tot. Wieder kicherte er.
Shane lief die Straßen nach Hause in einem eiligen Tempo, wie jeden der letzten Tage. Ihre rechte Hand berührte unaufhörlich den Schlüssel, drehte ihn in der Handfläche hin und her, bearbeitete ihn wie einen Rosenkranz.
Sie wusste, dass es heute geschehen würde, sie wusste, dass das heute der Tag sein würde.
Shane schluckte. Sie war seit jenem Nachmittag nicht mehr in der Stadt gewesen. Sie hatte nicht mehr trainiert.
Der Schlüssel drehte sich weiter.
Shane wollte die Straße überqueren und blieb dann abrupt stehen.
Eine riesige Schneeraupe fuhr an ihr vorbei. Der Fahrer hupte und winkte ihr zu. Shane winkte mit der freien Hand zurück. Selbst die Meteorologen wussten, dass etwas geschehen würde.
„Nun, da deine Augen auf mich blicken, nehme ich an, dass du mich gefunden hast. Ich weiß nicht, wer du bist, und wer dich ausbildet, ich weiß nicht, welches Jahr du schreiben würdest, würdest du ebenso ein Tagebuch führen wie ich. Meine Zeilen werden dir nicht viel Auskunft erteilen, es ist nur ein kleines Leben in einer großen Stadt, in einer mächtigen Stadt, es sind nur ein paar Zeilen und Zeitungsartikel.
Ich überreiche dir einen Schlüssel und ich weiß, dass du ihn kennst. Ich weiß, dass du ihn kennst, und ich nehme an, dass du bereits Pläne schmiedest. Ich denke nicht, dass du ihn tatsächlich brauchen wirst, doch ich denke, du benötigst ihn als Symbol. Du weißt, wo die Antworten liegen, geh und hol sie dir solange du noch kannst.
Ich habe nicht viel Großes geleistet in meinem kleinen Leben, doch ich habe eins getan: Ich habe es beschützt.
Es herrscht kein Krieg hier unten, doch er wird kommen, und ich will nicht, dass es in die falschen Hände gelangt. Nun habe ich das Einzige getan, was ich konnte, ich habe alles dafür gegeben, nun kann ich die Aufgabe nur noch an dich weitergeben. Wie mächtig du bist, vermag ich nicht zu denken, ich glaube dem ganzen Gerede hier unten nicht, ich habe auch kaum in die Bücher geschaut, doch das ist auch nicht mein Schicksal. Es ist deins.“
Shane überzog ein eiskalter Schauer, und der kam nicht von den Temperaturen. Sie hatte die Sätze gelesen, immer und immer wieder, es war der letzte Eintrag in dem Büchlein, und darunter war mit einem Klebeband der Schlüssel befestigt gewesen. Sie wiederholte die Zeilen in Gedanken wieder und wieder, sie hatte sie so oft gelesen, dass sie sie auswendig wusste. Sie wusste, wo der Schlüssel sie hinführen würde, sie wusste, zu welchem Schloss er gehören würde, doch im Gegensatz zu dem altem Mann war sie sich nicht sicher, dass sie ihn nicht brauchen würde.
Sie misstraute dem Ding in sich und sie misstraute ihren Fähigkeiten.
Sie wusste nicht, was geschehen würde, würde sie sie einsetzen. Sie hatte nicht mehr trainiert, doch sie ahnte, dass sie gewachsen waren. Sie befürchtete es.
Unter dem gelben Klebeband, auf dem Fleck, auf dem vorher der Schlüssel geklebt hatte, hatte der Mann, hatte Kurt, nur noch einen Satz geschrieben, es war der letzte in dem Buch gewesen, es waren Kurts letzte Worte an sie gewesen.
„Möge Gott mit dir sein.“
Ein kalter Wind fegte durch die Stadt. Er brachte keine eisigen Temperaturen wie in den letzten Wochen, wie in den letzten Monaten, doch er brachte die Menschen noch immer dazu, die Schultern hochzuziehen und anklagend in den Himmel zu
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